Leicht wie Stahl
Wohin man auf Automessen auch schaut – neue, schicke Studien werden vornehmlich aus Carbonfaser-Kunststoff gebaut. Gehört Stahl damit zum alten Eisen? Noch lange nicht, denn Wissenschaftler kitzeln immer neue Superlative aus dem Werkstoff heraus.
- Siegfried Kämpfer
Wohin man auf Automessen auch schaut – neue, schicke Studien werden vornehmlich aus Carbonfaser-Kunststoff gebaut. Gehört Stahl damit zum alten Eisen? Noch lange nicht, denn Wissenschaftler kitzeln immer neue Superlative aus dem Werkstoff heraus.
Die aktuelle europäische Stahl-Eisen-Liste verzeichnet 2380 marktrelevante Stahlsorten. Rund 2000 von ihnen wurden erst in den letzten zehn Jahren entwickelt. Das zeigt: Stahl ist nicht nur einer der ältesten Werkstoffe der Menschheit – bereits ab 1500 vor Christus schmiedeten frühe Hochkulturen Waffen und Schmuck aus Stahl –, sondern gleichzeitig auch einer der jüngsten. Technologietreiber ist vor allem die Autoindustrie – sie nimmt rund 30 Prozent der deutschen Stahlproduktion ab.
Dennoch hat Stahl ein Imageproblem: Wenn es etwa um den Leichtbau bei Autos geht, stehen vor allem Aluminium und Carbonfaser-Kunststoff (CFK) im Rampenlicht. Stahl hingegen haftet der Ruf an, ein Lowtech-Material fĂĽr die Brot-und-Butter-Klasse zu sein.
Zu Unrecht, denn moderne Stähle erreichen heute eine erstaunliche Bandbreite an Eigenschaften – von extrem fest bis äußerst dehnbar. Einige Legierungen bringen es auf eine Festigkeit von an die 2000 Megapascal (siehe Glossar Seite 48). Das bedeutet: Ein Draht aus solchem Material kann bei einem Querschnitt von einem Quadratmillimeter zweihundert Kilogramm Gewicht tragen. Nicht einmal Kohlefaser-Kunststoff ist fester. Solche Highend-Legierungen eignen sich gut zum Leichtbau, denn je größer ihre Festigkeit, desto geringer kann die Blechstärke und damit das Gewicht eines Bauteils ausfallen. Andere Stähle wiederum lassen sich bei Raumtemperatur um bis zu 90 Prozent dehnen, ohne zu reißen. Das schafft noch nicht einmal der Goldschmied mit seinem Lieblingsmaterial. Und dank raffinierter Verarbeitungsmethoden erreichen es die Forscher sogar, unterschiedliche Eigenschaften so in einem einzigen Werkstück zu verbinden, also ob es aus unterschiedlichen Materialien bestünde.
Den Startschuss für den Innovationswettlauf der Stahlindustrie hat ausgerechnet ein Aluminiumhersteller abgefeuert. Auf der Hannover Messe 1985 ließ das US-Unternehmen Alcoa zwei zierliche Damen die Karosserie eines Audi 100 tragen. Sie bestand vollständig aus Aluminium und wog nur rund 149 Kilogramm – etwa die Hälfte des Stahl-Serienmodells. Es dauerte zwar noch neun Jahre, bis Audi mit dem A8 die erste Serienlimousine mit kompletter Alu-Karosse auf den Markt brachte, und bis heute wurden nur rund 600.000 reine Aluminium-Autos verkauft, wenig im Vergleich zu 5,5 Millionen Pkw, die allein 2010 in Deutschland gebaut wurden. Dennoch spürt die Stahlindustrie seitdem stets den heißen Atem der Leichtmetall-Konkurrenz im Nacken. Zu dieser Zeit "wurde die Stahlindustrie wach", erinnert sich Peter Dahlmann, Geschäftsführender Vorstand der Branchenvereinigung Stahlinstitut VDEh.
Als Reaktion auf die ersten Erfolge der Leichtmetaller gründeten 35 Stahlproduzenten aus 18 Ländern in den neunziger Jahren das Forschungsprojekt "Ultra Light Steel Auto Body". 1998 lagen die Ergebnisse vor: Gegenüber herkömmlichen Referenzmodellen lasse sich mit neuen Stahlsorten das Gewicht um 25 Prozent senken und die Steifigkeit gleichzeitig um 80 Prozent erhöhen. Die Forschungskarosserie ging zwar nie in Serie, aber viele Erkenntnisse aus dem Projekt flossen in die Praxis ein. Und in der Tat hat sich die sogenannte Leichtbaugüte von Stahlkarosserien (das Verhältnis von Gewicht, Größe und Torsionssteifigkeit) bisher von Modellgeneration zu Modellgeneration verbessert. Damit sind die Leichtbaumöglichkeiten des Stahls noch längst nicht ausgereizt, glaubt Thomas Tröster, Professor für Leichtbau im Automobil an der Uni Paderborn: "Da sind noch 10 bis 20 Prozent drin." Ein noch größeres Potenzial sieht das dreijährige Forschungsprojekt "FutureSteelVehicle" von WorldAutoSteel, einer Fachgruppe des Weltverbands aller Stahlhersteller.
Ende Mai dieses Jahres wurden die Ergebnisse vorgestellt: Mit den besten aktuell produzierten beziehungsweise kurz vor der Markteinführung stehenden Stählen kann demnach eine Karosserie der Polo- oder Golfklasse weitere 35 Prozent leichter ausfallen. Um sich in der Praxis gegen von Natur aus leichte Materialien wie Aluminium oder CFK durchzusetzen, arbeiten die Stahlhersteller an der Quadratur des Kreises – der Verbindung von Festigkeit und Dehnbarkeit. Je fester ein Werkstoff, desto geringer ist üblicherweise seine Dehnbarkeit. Das bedeutet: Wenn hochfester, aber spröder Stahl zu einem Profil gebogen oder zu einem tiefen Becher gepresst werden soll, muss nicht nur viel Energie aufgewendet werden – das Material reißt auch leichter oder federt wieder in die ursprüngliche Form zurück. Und schneiden lässt sich ein 2000-Megapascal-Stahl nur noch per Laserstrahl oder diamantbesetztem Werkzeug.
Dennoch gelingt es Forschern immer wieder, einen Kompromiss zwischen Festigkeit und Dehnbarkeit auf hohem Niveau zu erreichen. Das Geheimnis liegt darin, eine komplizierte Klaviatur aus chemischer Zusammensetzung, Kristallstruktur und Verarbeitung perfekt zu beherrschen. Der Schlüssel für das Verständnis von Stahl liegt in dessen Kristallstruktur: Die Eisenatome sind als räumliches Gitter angeordnet, in dem an bestimmten Stellen die Atome von Legierungselementen wie Chrom, Nickel, Mangan oder Vanadium sitzen und die Gitterstruktur verändern. Art und Ausmaß solcher Veränderungen bestimmen, ob und wie die Ebenen des Kristallgefüges aneinander vorbeigleiten beziehungsweise sich ineinander verhaken. Beeinflussen lässt sich dies durch die richtige Beimischung von Legierungselementen, aber auch durch die Temperatur bei der Verarbeitung.
Schon in den achtziger Jahren wurde bei den sogenannten Dual- und Mehrphasenstählen gezielt mit der Gefügestruktur gespielt. Sie bestehen aus unterschiedlich zusammengesetzten, aber jeweils homogenen Bereichen. Den größten Anteil haben weiche "ferritische" Strukturen, in denen inselartig eingelagerte "martensitische" Gefüge die Festigkeit erhöhen (siehe Glossar). Dualphasenstähle mit 10 bis 30 Prozent Martensit erreichen eine beachtliche Festigkeit von bis zu 1000 Megapascal, allerdings bei einer Dehnbarkeit von relativ bescheidenen 30 Prozent. Als eine Antwort auf dieses Dilemma tauchten um das Jahr 2005 hochmanganhaltige Legierungen aus den Labors auf. Sie bestehen aus 15 bis 30 Prozent Mangan, 0,6 Prozent Kohlenstoff sowie je drei Prozent Aluminium und Silizium, der Rest ist Eisen. Ihre Zugfestigkeit liegt etwa im Bereich der Dualphasenstähle, ihre Dehnfähigkeit ist mit rund 90 Prozent aber ungefähr dreimal so hoch.