Meisterwerk zum Spottpreis: China, Portrait of a Country

Liu Heung Shing hat die Bildarchive 88 chinesischer Fotografen nach aussagekräftigen Dokumenten bekannter Schlüsselmomente und alltäglicher Begebenheiten durchsucht. Herausgekommen ist eine 424 Seiten starke und ebenso gewichtige wie gehaltvolle Bildersammlung der chinesischen Geschichte seit 1949.

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Von
  • Robert Seetzen

China, Portrait of a Country

(Bild: Verlag Taschen)

Der Untertitel "Porträt eines Landes" klingt wagemutig. In den sechzig vom Bildband abgedeckten Jahren musste das chinesische Volk mehrmals massive Umwälzungen erdulden; Gewalt, Hunger, Armut und Despotie ertragen. China durfte Hoffnung schöpfen im weltweiten Aufbruch der späten Achtziger und wurde grausam enttäuscht. Heute lockt, wenn schon nicht Freiheit, doch zumindest Wohlstand. Zugleich bleibt die Frage nach zeitgemäßen Werte- und Orientierungsrahmen jenseits zentralen Zwangs immer noch unbeantwortet. Wie soll all dies in einem einzelnen Bildband unterkommen?

Der Herausgeber des Buches, Liu Heung Shing, ist als Kind in China und Hongkong aufgewachsen, wurde in den USA zum Politikwissenschaftler und Fotografen ausgebildet und war später lange Jahre für AP als Fotojournalist tätig. Vielleicht hat gerade die besondere Kombination aus persönlicher Verwurzelung und weltläufiger Distanz das Riesenprojekt dieses Buches und vor allem seine erstaunliche Qualität möglich gemacht.

Liu Heung Shing hat die Bildarchive 88 chinesischer Fotografen nach aussagekräftigen Dokumenten bekannter Schlüsselmomente und alltäglicher Begebenheiten durchsucht, die Fundstücke sorgfältig sortiert und mit umfangreichen, informativen Anmerkungen beschriftet. Herausgekommen ist ein 424 Seiten starker, großformatiger und ebenso gewichtiger wie gehaltvoller Extrakt der chinesischen Geschichte seit 1949.

"China" vereint Bildgewalt mit Hintergrundwissen, ohne jemals belehrend zu wirken. Liu Heung Shing enthält sich wertender Kommentare; zumindest, soweit man die Auswahl so vieler von Gewalt geprägter Fotos nicht bereits als Kommentar werten will. Zudem ist längst nicht nur Gewalt in "China", friedvollere Momente werden ebenso aus dem Leben des einfachen Volks wie dem der Herrschenden gezeigt.

Dem Sprung in die kapitalistische Moderne widmet "China" rund 120 Seiten. Hier bezieht der Herausgeber noch am deutlichsten Stellung, zeigt etwa provokante Kunstaktionen oder ein von einem Zitat des Dalai Lama flankiertes Bild des Potala-Palasts in Tibet. Die im Anhang des Bildbands abgedruckte Chinakarte zeigt Tibet übrigens ohne den dünnsten Trennstrich als integralen Teil der Nation. Ein zumindest für westliche Menschen überraschendes Detail in einem herausragenden Meisterwerk, das mit einem Preis von knapp 20 Euro nahezu verschenkt wird.

China, Portrait of a Country
Hrsg. Liu Heung Shing
Verlag Taschen
424 Seiten
25 x 34 cm
19,99 Euro
ISBN: 978-3-8365-3089-7

(tho)