Wer im Verband bleibt, den bestraft das Leben?

Sind die großen Fachverbände noch aktuell? Inspirieren und vertreten sie noch Praxis und Innovation hinreichend? Sind die lose koppelnden Fachnetzwerke und emergierende Gemeinschaften die Zukunft?

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Bernd Oestereich

Die meisten Fachdisziplinen sind in entsprechenden Verbänden organisiert, mal eher akademisch orientiert, mal eher wirtschaftlich, manche lokal oder national, manche international. Auch die Fachdisziplinen Projektmanagement und Informatik haben in Wissenschaft oder Praxis seit Langem ihre großen Fachverbände. Die Gesellschaft für Informatik (GI), die Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) und das Project Management Institute (PMI) sind beispielsweise Organisationen, mit denen ich mich, auch wenn ich nicht bei allen Mitglied bin, schon länger aufgrund persönlicher Kontakte und Veranstaltungen verbunden fühle. Organisationen wie die Scrum Alliance in der agilen Szene zähle ich ebenfalls dazu.

Diese Organisationen bereichern oder inspirieren mich immer seltener. Interessante Themen werden anderswo diskutiert, und für mich relevante Innovationen entstehen ebenfalls in anderen Kontexten. So kam ich zu der Frage, welche Bedeutung die großen Fachverbände eigentlich noch haben und welchen Platz sie in der Zukunft haben könnten.

Die GPM ist eine im deutschen Sprachraum große Organisation für Projektmanagement, international mit der IPMA (International Project Management Association) verbunden. Die GPM nehme ich in folgenden Feldern wahr: Zertifizierungen, Standardisierung, Aus- und Weiterbildung und Fachkongresse. An der GPM gefällt mir, dass sie auch Soft Skills eine besondere Aufmerksamkeit einräumt und die Persönlichkeit des/der Projektmanagers/in in der Weiterbildung und bei den Zertifizierungen besonders beachtet. Auch habe ich die eine oder andere kleine Veranstaltung kennen gelernt, in der innovative Themen in zeitgemäßen Arbeitsformaten bearbeitet werden. Die GPM ist bundesweit und in vielen Regionalgruppen aktiv.

Das PMI ist der eher amerikanisch geprägte Mitbewerber der GPM, der in Deutschland spürbar dezentral organisiert ist und auch für Zertifizierungen, Standardisierung und Aus- und Weiterbildung steht und ebenfalls die eine oder andere Fachveranstaltung organisiert. International scheint mir PMI bedeutsamer zu sein. Zu den Unterschieden in den Zertifizierungen hatte ich vor längerer Zeit etwas geschrieben im Beitag "Mein Haus, mein Auto, meine Projektmanagement-Zertifikate (PMI, IPMA/GPM u. a.)".

Die Scrum Alliance nehme ich ebenfalls als Zertifizierungs- und Trainer-Lobbyverband wahr, wie ich in "Scrum-Szene im Umbruch" beschrieben habe.

Die Gesellschaft für Informatik ist deutlich größer als die nationalen PM-Organisationen und für mich in ihrer Gliederungsstruktur und Vielfalt wenig übersichtlich. Auch hier gibt es Untergruppierungen für Projektmanagement, Requirements Engineering, Vorgehensmodelle etc., bei denen ich aber (bis auf wenige Ausnahmen) das Gefühl habe, moderne praxisrelevante, allen voran agile Themen werden dort wenig diskutiert.

Stattdessen haben sich in den letzten fünf bis zehn Jahren zunehmend thematisch oder räumlich sehr fokussierte und immer mehr spezialisierte Knotenpunkte gebildet, die zusammen ein großes, emergentes Netzwerk bilden. Überall gibt es regelmäßige Treffen von Gleichgesinnten, beispielsweise Scrum-Stammtische, User Groups zu bestimmten Techniken oder Methoden. Parallel dazu entstanden immer mehr einmalige oder regelmäßige kleine Veranstaltungen mit offenen Formaten (Barcamps, Open Spaces etc.). Die Vielfalt spiegelt sich ebenfalls im Internet wieder, da alle diese Gruppen auch bei Xing, Yahoo, LinkedIn oder anderswo Mitgliederlisten oder Online-Diskussionen führen.

Die Qualität der Diskussionen in diesen Netzwerken ist ganz unterschiedlich, in sehr vielen Fällen meines Erachtens aber richtig gut und nur selten schlechter als in den Kontexten der klassischen großen Verbände. In Veranstaltungen der großen Verbände begegnen mir meistens Frontalvorträge mit schrecklichen PowerPoint-Folien. Von einer Preisverleihung im Rahmen eines großen Kongresses hörte ich letztens von fast allen befragten Teilnehmern, sie seien wegen des Essens da. Und auf der Veranstaltung selbst auch hauptsächlich wegen der Gespräche mit Kollegen und Kunden – weniger wegen der Vorträge.

Eine ähnliche Entwicklung sehe ich bei den klassischen Fachpublikationen (Magazine, Bücher), dort ist die Qualität zwar oft noch deutlich besser – immer mehr Blogs können aber mithalten. Vor allem aber sind sie schneller und direkter.

Die Zertifizierungen werden wichtiger Bestandteil bleiben. Sie geben damit vielen Individuen Orientierung, Sicherheit und eine kleine Marktwertsteigerung. Da hinter den Zertifizierungen auch irgendwelche Standardorganisationen stehen, bleiben diese ebenfalls. Genauso wie ihre Funktion als Lobby-Instrument und beispielsweise ihr Einfluss auf die Politik. Und deswegen werden sie auch nicht so schnell verschwinden.

Aber die Zahl derer, die diese Orientierung gar nicht mehr suchen, die von den vorgegebenen Richtungen nicht mehr überzeugt sind, die sich andere Standards und Einflussnahmen gewünscht hätten und die sehr viel näher am Puls der innovativen Themen dran sein möchten, wird meiner Überzeugung nach unumkehrbar und kontinuierlich zunehmen. Die neuen Netzwerke sind nicht zentral organisiert, sondern verbinden interessierte Fachleute hierarchieärmer, auf ähnlicher Augenhöhe, unkomplizierter und schneller miteinander. Sie sind aber auch unübersichtlicher und können damit nicht jedem das benötigte Maß an Orientierung liefern. Zumindest nicht auf den ersten Blick – denn bei genauerem Hinsehen teilen die Netzwerke und ihre Mitglieder oft ähnliche soziale Werte und Überzeugungen und liefern damit eine andere Form von Heimat und Orientierung.

Vor zehn und auch noch vor fünf Jahren bin ich als Netzwerksympathisant und -beheimateter noch gezielt in die großen Verbände reingegangen, um dort neue Ideen einzupflanzen. Heute würde ich es nicht mehr tun, und ich treffe auch in den Netzwerken kaum Leute, die darauf ihre Aufmerksamkeit richten würden. Wenn die Verbände den Anschluss an oder auch nur den Diskurs mit den Fachnetzwerken suchen wollten, müssten sie sich meines Erachtens auf den Weg in sie hinein machen. Das habe ich noch nicht erlebt. Allenfalls laden Netzwerke zum Brückenbauen ein, wie aktuell Open-PM. Es erfordert wahrscheinlich auch eine mentale Öffnung bei den Funktionären, denn Verbände und emergente Netzwerke stehen asymetrisch zueinander.

Im Gegensatz zu den großen Verbänden sind die großen Unternehmen ganz selbstverständlich näher an den Fachnetzwerken dran: Barcamps in den Räumen des Otto-Konzerns, Community-Treffen bei SAP etc. gibt es seit Jahren. ()