Jahrestag der Bombenanschläge von London
Vor einem Jahr explodierten in der Londoner Innenstadt vier Bomben. Bis heute dauert die am 22. Juli verhängte Informationssperre an, es existiert lediglich ein unvollständiger Untersuchungsbericht.
Am 7. Juli 2005 explodierten um 8:50 Uhr in der Londoner Innenstadt vier Bomben, drei in der U-Bahn, eine in einem Bus. 36 Briten und 16 Menschen aus Mauretanien, Irland, Nigeria, Grenada, Polen, Frankreich, Neuseeland, Ghana und Bangladesh starben. 732 Menschen wurden verletzt. Bereits um 11:00 Uhr vormittags verkündete der Krisenstab, dass die Menschen islamistischen Selbstmordattentätern und nicht der IRA zum Opfer fielen. Die ersten Beweise fand man freilich erst um 22:40 Uhr. Als die Bomben explodierten, befanden sich die britischen Antiterrorspezialisten im strikt abgeschotteten Gleneagles und sicherten dort den G8-Gipfel. 160 Spezialisten wurden sofort in die Hauptstadt zurückgebracht und begannen mit der Aufklärung der Anschläge, unterstützt von 250 Polizisten.
Die Ermittler konzentrierten sich zunächst auf 5000 Videobänder der Londoner Verkehrsbetriebe und der Bahnen, die im Schichtbetrieb gesichtet wurden, und auf eine Liste von 763 Personen, die am 7. Juli als vermisst gemeldet wurden. Vier Tage dauerte es, bis die entscheidenden Videobilder von vier Männern mit Rucksäcken gefunden waren, die um 8:20 Uhr von einer Videokamera am Bahnhof King's Cross aufgezeichnet wurden. Einen halben Tag brauchte es, die Züge zurückzuverfolgen und Aufnahmen zu finden, die um 7:20 Uhr am Bahnhof von Luton aufgenommen wurden. Kaum eine Stunde verging, bis Spezialisten einen angemieteten Nissan Micra fanden, unter dessen Fahrersitz zwei weitere scharfe Bomben deponiert waren. Bis zum 22. Juli war die Polizei mit ihren Informationen sehr offen, dann wurde eine Informationssperre verhängt: An diesem Tag erschossen Antiterrorspezialisten versehentlich den Brasilianer Jean Charles de Menezes. Er war mit einem Videoabgleich mit Osman Hussein verwechselt worden, der tags zuvor nach einem missglückten Bombenattentat geflohen war.
Bis heute dauert die Informationssperre an. Statt detaillierter Aufklärung gibt es einen polizeilich geschönten "Narrative" und einen abschließenden, doch unvollständigen Untersuchungsbericht. Was es weiterhin gibt, sind Erfolgsmeldungen verschiedener Firmen, deren Software oder Hardware sich im Kampf gegen den Terror in London bewährte. Viele dieser Meldungen stellen sich im Nachhinein als unhaltbar heraus. Weder wurden die vier Selbstmordattentäter durch "intelligente Kameras" ermittelt, bei denen Software die Bilder nach "verdächtigen Bewegungen" analysiert, noch kamen Zusammenhänge durch "Information Drilling" und "Data Mining" ans Tageslicht. Eher triumphierte die gründliche Ermittlungsarbeit der Kriminalisten. Die Londoner verhielten sich erstaunlich besonnen, einige bloggten sogar Informationen, während das Telefonnetz (nicht das digitale TETRA-Netz der Behörden) überlastet war.
Die Konsequenzen, die aus den Selbstmordattentaten gezogen werden, sind großteils technischer Natur. Allein in London sollen die 6000 Kameras in der U-Bahn durch 12.000 hochmoderne Systeme ersetzt werden. Dazu experimentiert man mit der aktiven Selbstüberwachung der Bürger. Ein hochmoderner Leitstand nach dem C4i-Prinzip der Militärs (Command, Control, Communications, Computers, and Intelligence) wird angeschafft, bei dem Tausende von Sensoren zum Eisnatz kommen, um bei chemischen und biologischen Attacken sofort Winddaten auf intelligenten Landkarten parat zu haben. "London wird die bestüberwachte Stadt der Welt bleiben", versprach Bürgermeister Ken Livingston kurz vor den Gedenkfeiern. Währenddessen wurde eine von ITV News eine Untersuchung veröffentlicht, derzufolge 16 Prozent der britischen Moslems glauben, dass die Selbstmordattentate im öffentlichen Verkehr zwar verwerflich, die Motivationsgründe für die Selbstmörder jedoch gerechtfertigt waren.
Unterdessen haben arabische Fernsehsender ein Video ausgestrahlt, in dem Shehzad Tanweer, einer der vier Selbstmordattentäter, weitere Bombenattentate in London ankündigt. "Was ihr erlebt habt, ist nur der Anfang einer Serie von Angriffen." Als er noch lebte, fiel der 22-jährige Cricketspieler Shehzad Tanweer durch alle Datenbankraster, mit denen nach mutmaßlichen Terroristen gesucht wird. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte Tanweer 121.000 Pfund auf seinem Bankkonto und galt damit als vermögender, integrierter britischer Moslem. (Detlef Borchers) / (anw)