Falsche Lehren aus dem Kalten Krieg

Neue technische Entwicklungen wie die Laser-Isotopen-Trennung heizen das Atomkriegs-Risiko wieder an. Das Konzept der nuklearen Abschreckung funktioniert in der heutigen Weltordnung nicht mehr, warnen Militärexperten und Spieltheoretiker.

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Von
  • Mark Williams

Das Konzept der nuklearen Abschreckung funktioniert in der heutigen Weltordnung nicht mehr, warnen Militärexperten und Spieltheoretiker. Ohne forcierte Abrüstung könnte es in den nächsten 20 Jahren zu einem Atomkrieg kommen.

1981, als sich die Sowjetunion noch über elf Zeitzonen erstreckte, stellte der US-Politikwissenschaftler Kenneth Waltz eine provozierende These auf: Mehr Nuklearwaffen in der Welt könnten den Frieden fördern. In seinem Artikel „The Spread of Nuclear Weapons: More may be better “ argumentierte er, wenn Frieden die Abwesenheit von allgemeinem Krieg bedeute, sei mit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki eine beispiellose Friedensära angebrochen.

Natürlich wäre es angenehmer, wenn Staaten nur konventionelle Waffen besäßen und dennoch nicht Krieg führten. Da aber immer Konflikte entstünden und es eines Tages „10, 12 oder 18 Nuklearstaaten“ geben könnte – 1981 waren es erst sieben, heute sind es neun –, sei „die schrittweise Verbreitung von Kernwaffen besser als gar keine oder eine zu schnelle Verbreitung“, schrieb Waltz, der der „neorealistischen“ Schule in der Theorie internationaler Beziehungen zugerechnet wurde.

Indem er sich für eine „schrittweise“ Verbreitung aussprach, vermied er einerseits die unhaltbare Behauptung, die Welt würde immer sicherer, je mehr Nationen Kernwaffen hätten, weil Nuklearstaaten einen mächtigen Anreiz hätten, Krieg zu vermeiden. Andererseits blieb er nicht in dem logischen Problem der Abschreckungstheoretiker stecken, die zwar eine nukleare Abschreckung befürworteten, gleichzeitig aber eine Proliferation von Kernwaffen verhinden wollten.

Auch 30 Jahre später argumentieren Waltz und die Neorealisten, dass Staaten ihre Interessen im Prinzip mit allen Mitteln durchsetzen wollen, es sei denn es gibt Einschränkungen durch ein internationales Machtgleichgewicht. Kommen Kernwaffen ins Spiel, behaupten die Neorealisten, würden die Kosten für einen Krieg das erträgliche Maß übersteigen – so dass ein Machtgleichgewicht durch nukleare Abschreckung in sich und auf besondere Weise stabil sei.

Man kann Waltz’ These für verrückt oder sinnig halten. Dank sich weiterentwickelnder Technik lässt sie sich nun aber überprüfen. Zum Beispiel in der Nähe von Wilmington in North Carolina. Dort entsteht derzeit eine unscheinbare Anlage, die spätestens 2013 erstmals Uran mittels Laser-Isotopen-Trennung (LIS) anreichern wird. Damit lässt sich reaktortaugliches Uran – acht Prozent bestehen aus dem spaltbaren Isotop Uran 235 – billiger und mit weniger Abfall produzieren als mit den heutigen Zentrifugen. Wenn die Anlage wie geplant funktioniert, „ist die LIS nicht nur ein viel effizienteres Verfahren, sondern auch viel schwerer für Außenstehende zu entdecken“, sagt Charles Ferguson, Präsident der Federation of American Scientists.

Experten wie Ferguson weisen denn auch daraufhin, dass die LIS besonders geeignet ist, unbemerkt waffentaugliches Uran – mit einem Anteil von Uran 235 von mindestens 90 Prozent – herzustellen. Die Technologie könnten sogar nicht-staatliche Akteure einsetzen. Nötig ist nur eine mittelgroße Lagerhalle. Die LIS verbraucht nicht mehr Strom als ein Dutzend Haushalte. Im Prinzip könnte man die LIS also fast überall betreiben. So blieb denn auch die iranische Pilotanlage in Lashkar Aba’ad drei Jahre unentdeckt, bevor Dissidenten aus der islamischen Republik die Internationale Atomenergie-Behörde IAEA darüber informierten. Die kam nach einer Untersuchung zu dem Schluss, dass in Lashkar waffentaugliches Uran hätte produziert werden können, wenn alle Geräte installiert worden wären. Heute führt der Iran seine LIS-Forschung an anderen Orten fort.

Die LIS ist nur die Speerspitze dieser Entwicklung. Zu der gehört auch die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Uran-Brennstäben aus Reaktoren. In den USA wird sie unter anderem von Per Peterson, dem einzigen Kerntechniker in der neuen Blue Ribbon Commission on America’s Nuclear Future, verfochten. Mit verschiedenen Reaktorkonstruktionen könnte der rezyklierte Atommüll innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten bis zur Unbedenklichkeit abgebrannt sein. Die Kehrseite: Dabei könnte auch schneller und leichter als je zuvor Nuklearmaterial für Kernwaffen produziert werden – und ein "goldenes Zeitalter" der Proliferation anbrechen.

Die Fehler der Abschreckungsdoktrin

Im Gegensatz zu den Neorealisten vom Schlage eines Thomas Waltz sieht das Global Zero Movement – dem unter anderem Michail Gorbatschow und Jimmy Carter angehören – Gefahr heraufziehen, wenn auch Staaten wie Burma oder Syrien endlich an Atomwaffen kommen. Die Bewegung setzt sich dafür ein, dass spätestens 2030 alle Kernwaffen verboten werden. Bemerkenswert ist, dass das Global Zero Movement 2007 von ehemaligen US-Außenministern Henry Kissinger und George Shultz gemeinsam mit Ex-Verteidigungsminister William Perry gestartet wurde. Kissinger selbst hatte noch in den frühen 1970er Jahren verantwortet, dass amerikanische Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen bestückt worden waren. Doch in seinem Werk „Diplomacy“ hatte er bereits 1994 seine Haltung geändert: „Abschreckung kann nur im Negativen getestet werden, durch Ereignisse, die nicht stattgefunden haben... Es ist aber nicht möglich, zu beweisen, warum etwas nicht stattgefunden... oder dass der Gegner je einen Angriff vorhatte.“

Nun würde man eigentlich annehmen, dass die zerstörerischste Waffe aller Zeiten eine gewisse Abschreckungskraft haben sollte. Die Geschichte scheint dafür zu sprechen: zwischen 1945 und 1996 bauten die USA über 70.000 Atom- und Wasserstoffbomben. Die UdSSR verfügte über ein vergleichbares Arsenal. In 50 Jahren Kalten Kriegs kamen amerikanische und sowjetische Führungen immer wieder zu demselben Schluss, den schon der erste Nuklearstratege der USA, Bernard Brodie, nach den Atombombenabwürfen in Japan gezogen hatte: „Bisher war das Ziel unseres Militärs Kriege zu gewinnen. Ab jetzt muss es darum gehen, sie zu vermeiden.“

Zwischen den Großmächten fand danach kein herkömmlicher direkter Krieg mehr statt. Für Thomas Schelling, einer der Architekten der US-Strategie im Kalten Krieg, ist dies aber kein Beweis, dass die Abschreckung funktioniert hat. „Seit 1945 hat es, je nach Zählung, sieben oder acht Kriege gegeben, in denen eine Seite Kernwaffen hatte, aber nicht einsetzte“, sagt Schelling. „Kernwaffen haben Nordkorea und China in den 1950ern nicht abgeschreckt. 1973 war es Israel, das Atombomben auf Kairo und Damaskus hätte werfen können.“ Damals hatten arabische Staaten die Atommacht Israel angegriffen.

Ward Wilson hat in seinem Aufsehen erregenden Essay „The Myth of Nuclear Deterrence “ 2008 diese Einschätzung bestätigt. Auch er führt Nuklearstaaten an, deren Kernwaffen sie nicht davor schützten, angegriffen zu werden. Die „faktische Bilanz der nuklearen Abschreckung offenbart mehr Versagen als Erfolg.“

Der Geopolitik-Experte Jace Kugler findet die Grundannahme von Brodie falsch. Die lautete: Wenn man die Kosten des Gegners hochtreibt, senkt man die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. „Niemand fängt einen Krieg wegen der Kosten an“, hält Kugler dagegen. „Kalkuliert wird die Möglichkeit eines Sieges. Deshalb begannen einige von uns in den 1970ern, die herkömmliche Abschreckungstheorie als Unsinn zu betrachten.“ Er glaubt, dass unzufriedene oder aufgebrachte Herausforderer einen Nuklearschlag riskieren könnten, wenn sie die Situation als strategisch vorteilhaft für sich einschätzen.

Schon Winston Churchill hatte 1955 in einer Rede vor dem britischen Parlament gesagt, die nukleare Abschreckung werde sich nie auf „Verrückte oder Diktatoren“ anwenden lassen, wenn die sich wie Hitler in ihrer letzten Bastion verschanzt hätten. Ein Regime, das dem Ende entgegen sieht, wägt keine Risiken mehr ab. Deshalb ist es eine glaubhafte Annahme, dass solch ein Regime Kernwaffen einsetzen würde, wenn es sie hätte. Erst recht, wenn es, wie Nordkorea, bei konventionellen Waffen schlechter dasteht als seine Gegner.

Nukleare Spieltheorie

Genau das hatte Thomas Schelling im Sinn, als er 2005 seine Nobelpreis-Rede hielt, nachdem man ihm den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten in Spieltheorie verliehen hatte. Nach Hiroshima und Nagasaki sei ein nukleares „Tabu“ errichtet worden, um den Einsatz dieser furchtbaren Waffen zu verhindern. Dieses Tabu aufrecht zu erhalten, bedürfen aber enormen diplomatischen Geschicks und internationaler Zusammenarbeit in einer Welt, in der Mächte wie die USA plötzlich lernen, „wie es ist, abgeschreckt zu werden und nicht derjenige zu sein, der andere abschreckt“.

In dieser Welt beschaffen sich kleinere Staaten Kernwaffen, um die überwältigende Schlagkraft des US-Militärs von sich fernzuhalten. Es ist eine andere Welt als die, die Strategen des Pentagons nach dem Kalten Krieg hatten kommen sehen. In in einem Papier des United States Strategic Command (Stratcom) hatte es 1995 geheißen: „Da wir es für unmöglich halten, Kernwaffen zu ‚unerfinden’, bleiben sie für die Zukunft das Kernstück der strategischen Abschreckung.“

Das schien zu diesem Zeitpunkt durchaus stimmig: Hatte nicht George Bush der Ältere Saddam Hussein vor dem ersten Irakkrieg gewarnt, dass die USA „den Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen nicht hinnehmen“ würden? Diese versteckte Androhung eines nuklearen Vergeltungsschlags schien Hussein doch davon abgehalten zu haben, B- und C-Waffen einzusetzen. Daraus zog Stratcom damals den zusätzlichen Schluss, dass Atomwaffen sogar zu einer „Durchsetzung von politischen Interessen“ beitragen könnten. Gegner würden verstehen müssen, dass „unsere Handlungen schreckliche Konsequenzen für sie haben würden“. Welche das wären, sollten die USA jedoch nicht genauer beschreiben, sie sollten den potenziellen Gegner bewusst im Unklaren lassen.

Das war geradezu eine Hymne auf das Denken des Kalten Krieges. In den 1950er Jahren hatte bereits der damalige US-Außenminister John Foster Dulles argumentiert, es sei rational, das nukleare Tabu zu beseitigen, um Gegner zu Zugeständnissen zu nötigen. In den 1960ern hatte Richard Nixon gesagt, der Feind solle ruhig glauben, „Nixon ist besessen... Wenn er erstmal in Rage ist und den Finger am Roten Knopf hat, können wir ihn nicht mehr besänftigen.“ Nixon und Dulles folgten damit Theoretikern wie Schelling oder auch Herman Kahn von der RAND Corporation. Schelling hielt eine unkalkulierbare Vergeltung für effektiver als eine kalkulierbare.

1995 hatte sich die Lage jedoch geändert: Die UdSSR war nicht länger der große Gegenspieler in der Weltpolitik. Und doch glaubten die Stratcom-Theoretiker, die abschreckende Wirkung von US-Kernwaffen sei eher noch größer geworden. Das erscheint heute naiv. Die Abschreckungsdoktrin hat Al Quaida nicht daran gehindert, die die Anschläge vom 11. September 2001 auszuführen.

Die Abschreckungstheorien des Kalten Krieges basierten darauf, dass sich zwei Spieler in einem Nullsummenspiel befinden – wenn einer gewinnt, verliert der andere. Darin würde jeder Spieler versuchen, seinen maximalen Verlust möglichst gering zu halten. In Spielen mit mehr als zwei Spielern nimmt jedoch die Komplexität exponentiell mit der Zahl der Spieler zu. Auf die nukleare Abschreckung bezogen, heiße das, dass die Instabilität rapide zunehme, sagt Martin Shubik, der früher an der Yale University Spieltheorie gelehrt hat. Das ändere sich auch nicht, wenn alle Akteure als rational betrachtet werden können.

„Meine zentrale Schlussfolgerung ist, dass die USA gut beraten wären, eine globale Gruppe einzuberufen, die alle Nuklearstaaten überwacht“, sagt Shubik. Die USA selbst sollten die ersten sein, die ihre Anlagen zur Inspektion öffnen, um ein weltweites Inspektionsprogramm in Gang zu bekommen. „Ohne etwas Derartiges ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr hoch, dass wir in den nächsten 20 Jahren einen Atomkrieg vermeiden können“, warnt Shubik. (nbo)