Pilgerfahrten eines Weltstars: Pilgrimage

Von Lincoln über Darwin und Freud bis zu Elvis Presley: Annie Leibowitz besucht bedeutsame Orte und lässt die Leser ihres Bildbands erstaunlich nah an sich selbst und die Sujets ihrer Betrachtung heran.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Robert Seetzen

Pilgrimage, Annie Leibowitz, Schirmer Mosel Verlag

(Bild: Schirmer Mosel)

Kein Zweifel: Annie Leibowitz zählt schon lange zu den Größten ihrer Zunft. Nur wenige Kollegen genießen eine vergleichbar umfassende Anerkennung über Genre- und Ländergenzen hinweg. Sollte es einen Olymp der Fotografie geben, sie hätte dort vermutlich längst festes Hausrecht.

Um so bemerkenswerter scheint "Pilgrimage", ihr aktuelles Werk. Ganz ohne den Habitus einer in ihrem Erfolg der Welt entrückten Künstlerin liefert Leibowitz ein sehr persönliches Dokument ab. In 27 Kapiteln schildert sie ihre Auseinandersetzung mit bedeutsamen Personen und Orten. "Pilgerreisen zu Kultorten" lautet der Untertitel, was übrigens keinesfalls als Hinweis auf religiöse Themen zu verstehen ist. Statt dessen gilt ihr Interesse vor allem historischen Themen, jeweils festgemacht an einem Ort, zumeist auch an einer Person.

Dass dabei vor allem die US-amerikanische Geschichte im Mittelpunkt steht, mag in Zeiten allgegenwärtiger Globalisierung zunächst irritieren. Doch es geht Leibowitz ja – und hier liegt eine Stärke von Pilgrimage – gerade um die Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Wurzeln und den geschichtlichen Hintergründen des eigenen politischen und sozialen Umfelds. Zudem reicht die Bedeutung der in Pilgrimage behandelten Orte und Personen, darunter die Dichterin Emily Dickinson, die Malerin Georgia O'Keefe oder die Tänzerin und Choreografin Martha Graham, weit über die Grenzen der USA hinaus. Einige Namen aus Pilgrimage gehören ohnehin längst zum globalen Kanon: Abraham Lincoln, Elvis Presley, Sigmund Freud oder Charles Darwin zum Beispiel sind, wenn auch posthum, zu Weltbürgern geworden.

Leibowitz nähert sich den Menschen und ihren Schaffensorten oder Lebensmittelpunkten auf unspektakuläre Weise. Wer großartige Aufnahmen mit der für Leibowitz meist typischen Perfektion erwartet, könnte sogar enttäuscht sein. Vieles wurde mit einfachster Ausrüstung aufgenommen. Einige Fotos lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sie einer Kompaktkamera entstammen. Bildrauschen und Farbstiche sind oft gesehene Gäste in den Bildern von Pilgrimage, manche Innenszene hätte auch von minimaler Beleuchtungstechnik bereits nennenswert profitieren können.

Dass fotografische Finesse in Pilgrimage so oft und offenkundig außen vor bleibt, lässt jedoch kein Gefühl von Mangel aufkommen. Im Gegenteil: Gerade die Abwesenheit von Perfektion verstärkt den Kontakt zum Sujet, erst so entsteht aus den oft in der ersten Person geschriebenen Texten und den mehr als 100 Bildern eine Einheit, die der Atmosphäre des jeweiligen Ortes tatsächlich gerecht wird. Und genau hier beweist sich auch, wie viel Substanz Pilgrimage mitbringt. Annie Leibowitz’ fotografischer Streifzug durch Graceland etwa, Pilgerstätte zahlloser Elvis-Fans, stellt Nähe eben nicht trotz, sondern gerade wegen des Verzichts auf technische und stilistische Perfektion her. Ähnliches gilt für die leider losgelöst von den jeweils passenden Bilderstrecken und eher chaotisch platzierten Texte. Auch hier bleibt Leibowitz zwar Finesse und Feinschliff schuldig, lässt die Leser von Pilgrimage aber gerade deshalb unmittelbarer an ihrer eigenen, zudem niemals oberflächlichen Auseinandersetzung mit den 27 "Kultorten" teilhaben.

Pilgrimage
Annie Leibowitz
Schirmer Mosel
246 Seiten, 128 Abb.
30 x 22 cm
49,80 Euro
ISBN: 978-3-8296-0552-6

(keh)