Die Woche: Linux auf dem Desktop?

Da schien es, als sei der Traum vom Durchbruch auf dem Desktop endgültig ausgeträumt, steigt die Zahl der Linux-Anwender im Web. Kommt Linux jetzt doch noch auf den Desktop?

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Dr. Oliver Diedrich

Still ist es geworden um den Linux-Desktop. Spektakuläre Projekte wie die 2003 beschlossene Migration von 15000 Büroarbeitsplätzen in der Stadtverwaltung München auf Linux sind Ausnahmen geblieben und haben gezeigt: Mal so eben stellt man nicht auf Linux um; allein die enge Verbandelung vieler Arbeitsprozesse mit MS-Office ist ein enormes Hindernis für den Umstieg. Das musste auch das Münchner Limux-Projekt erfahren, das immer noch in der Linux-Migration steckt – ursprünglich wollte man den Umstieg bis 2008 bewältigt haben.

Und im privaten Bereich, wo sich der Linux-PC nicht in eine komplexe IT-Infrastruktur integrieren muss? Auch hier ist der große Durchbruch ausgeblieben. Ist ja auch kein Wunder: Es ist nach wie vor kaum möglich, einen PC oder ein Notebook ohne vorinstalliertes Windows zu kaufen.

Und so ist Linux auf dem Desktop eine Nischenlösung geblieben. Gelegentlich zu finden in Unternehmen, vornehmlich bei Entwicklern und Admins, sowie bei Linux-Enthusiasten, die ihre privaten PCs und Notebooks mit dem freien Betriebssystem bestücken. Und man kann durchaus mit Linux auf dem Desktop glücklich werden: Meine Rechner laufen seit über 15 Jahren ausschließlich unter Linux. Allerdings fasziniert mich Python mehr als Ego-Shooter, und die Details von Dateisystemen finde ich interessanter als 3D-Filme; insofern bin ich vermutlich kein ganz typischer PC-Benutzer.

Auf heise.de stagniert der Anteil der Linux-User seit 2007.

Vor wenigen Jahren gehörte es noch zu den gängigen Neujahrsritualen unter IT-Propheten, das gerade angebrochene Jahr zum "Jahr des Linux-Desktops" zu erklären; heutzutage glaubt niemand mehr an den Durchbruch des PC-Linux als Desktop-System für den Massenmarkt. Die Webbrowser- und Betriebssystemstatistiken des NetMarketShare von Net Applications, der auf der Grundlage von etwa 160 Millionen Besuchern großer kommerzieller Websites pro Monat erstellt wird, weist seit Anfang 2009 für Linux einen Marktanteil von rund einem Prozent aus -- Tendenz gleichbleibend.

Diesen Wert darf man natürlich ebenso wenig wörtlich nehmen wie die 13 bis 14 Prozent Linux-User, die wir seit einigen Jahren auf heise online zählen. Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen, wobei die Zahlen von Net Applications der Realität sicher näher kommen als der Wert auf unserer Special-Interest-Site für deutschsprachige IT-Interessierte. Auch Linux-freundliche Analysten sind sich einig, dass der Marktanteil von Linux auf dem Desktop im niedrigen einstelligen Bereich liegt – und dort auch bleiben wird, wenn nicht etwas Unvorhersehbares passiert. Denn eine Tendenz zeigen sowohl die Zahlen von Net Applications als auch die von heise online: Der Anteil der Linux-User stagniert – auf den kommerziellen US-Websites seit 2009, auf heise online bereits seit 2007.

Seit dem Sommer 2011 steigt der Anteil der Linux-Nutzer laut NetMarktShare kontinuierlich.

Und nun auf einmal das: Seit dem Sommer 2011 steigt der Anteil der Linux-User laut NetMarktShare kontinuierlich an, um über 40 Prozent bislang – jeden Monat werden 120.000 bis 150.000 Linuxer mehr gezählt als im Vormonat. Wir haben lange spekuliert, woran das liegen könnte: Chrome-Books in den USA? WebOS-Tablets? Meego-Geräte in Asien? Der zwanzigste Geburtstag, der Linux im August 2011 weltweit in die Medien brachte? Alles nicht wirklich überzeugend.

Übrigens: Auch im Linux Counter und bei Statcounter zeigt sich ein Anstieg seit dem letzten Sommer – wenn auch nicht so deutlich und dauerhaft wie bei NetMarketShare. Dass sich der Trend bei Linux auf dem Desktop umkehrt, mögen wir trotzdem noch nicht so recht glauben – mal sehen, wie sich die Zahlen in den nächsten Monaten entwickeln.

Auf Supercomputern dominiert Linux seit Jahren.

(Bild: Wikipedia)

Bei den Servern sieht das ganz anders aus. IDC beispielsweise meldete für 2010 ein überdurchschnittliches Wachstum von 30**Prozent binnen einen Jahres und einen Linux-Marktanteil von 17**Prozent bei neu verkauften Servern – nach Umsätzen gerechnet, nicht etwa nach Stückzahlen: Da dürfte der Linux-Anteil noch höher liegen, schließlich ist das PC-Unix erste Wahl auf günstiger Server-Hardware. Bei Webservern liegt der Anteil noch deutlich höher, und bei den richtig großen Eisen ist Linux sowieso klarer Marktführer: Über 95 Prozent der 500 schnellsten Supercomputer der Welt arbeiten mit Linux.

Und auch am unteren Ende der Computerei, im Bereich der Embedded Systems, hat Linux Fuß gefasst: Ob Kernspintomograph, NAS-Box, DSL-Router oder Internet-TV, eine Vielzahl von Geräten sind mit Linux ausgestattet. In der Android-Inkarnation hat Linux einen wahren Siegeszug auf Smartphones hingelegt. Warum klappt es überall mit Linux, nur nicht auf dem PC-Desktop? Mit Mac OS X zeigt Apple doch, dass Unix durchaus einen brauchbaren Unterbau für ein Desktop-Betriebssystem abgeben kann – wenn man für eine ordentliche Oberfläche, einheitliche Bedienkonzepte und konsistente Programmierschnittstellen sorgt.

Die größte Hürde für einen breiten Erfolg auf dem Desktop ist nämlich die Flexibilität von Linux – das, was erfahrene Linuxer schätzen und lieben: die freie Wahl zwischen hundert Distributionen und einem halben Dutzend Desktops, zwischen zahlreichen Programmiersprachen (C, C++, Perl, Python, Vala ...) und (GUI-) Frameworks (Qt/KDE, glib/Gtk+/Gnome, ...), zwischen verschiedenen Paketverwaltungen (rpm, deb) und unterschiedlichsten Ansätzen zum Systemmanagement. Wann immer man nämlich diese Vielfalt wegnimmt, wird Linux durchaus endanwendertauglich, wie Android-Smartphones, Internet-Fernseher oder DSL-Router deutlich zeigen.

Vielleicht kann Google ja mit ChromeOS das wiederholen, was mit Android bereits gelungen ist. Oder Canonical schafft es, mit Ubuntu aus dem begrenzten Kreis der Linux-Anwender und Linux-Neugierigen auszubrechen. Sehr wahrscheinlich ist das nicht. Aber ich wüsste schon gerne, wieso seit dem Sommer immer mehr Linux-User auf den Websites des NetMarketShare auftauchen ... (odi) (odi)