Auch Du bist Astronom

Je mehr Daten Wissenschaftler produzieren, desto dringender stellt sich die Frage: Wer soll das alles interpretieren? Die Lösung bieten Laien, die ihren gesunden Menschenverstand zur Verfügung stellen.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Chris Löwer
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Dieses Jahr zu Weihnachten werden sie wieder scharenweise mit Zettel und Stift ausströmen: Naturverbundene Amerikaner, die beim "Christmas Bird Count" akribisch Vögel zählen und Veränderungen zum Vorjahr registrieren. Seit 111 Jahren geht das nun schon so. Wissenschaftler der US-amerikanischen Vogelschutzorganisation National Audubon Society werten die Daten dann aus. Die freiwilligen Laien-Vogelforscher sind Vorläufer einer stetig größer werdenden Citizen-Science-Bewegung: Immer mehr Menschen, von Beruf vielleicht Krankenschwester, Lehrer oder Versicherungskauffrau, entdecken, dass sie ohne großes Vorwissen Forscher unterstützen und Spaß daran haben können.

Neben populären und recht einfachen Jobs in Fauna und Flora wie dem Vogelzählen kam 1999 eine neue Variante der wissenschaftlichen Bürgerbeteiligung hinzu: Beim Projekt SETI@home stellten Privatleute die Rechenleistung ihrer PCs kostenlos zur Verfügung, um große Datenmengen nach Anzeichen außerirdischen Lebens zu durchforsten. Über solche eher passiven Beiträge gehen aktuelle Projekte indes weit hinaus: Bürgerwissenschaftler mischen zunehmend auch an anspruchsvolleren Forschungsprojekten mit – sie falten für Pharmaforscher virtuelle Proteinstrukturen, fahnden nach fremden Galaxien, suchen Sternenstaub oder erheben aus alten Logbüchern Klimadaten. Ihr Arbeitsplatz ist das Internet.

"Citizen Science erlebt einen ungeheuren Aufschwung, wie die rasch steigende Zahl an Projekten im Web zeigt", sagt François Grey, Physiker und Koordinator des Citizen Cyberscience Centre, einem Gemeinschaftsprojekt des Europäischen Kernforschungszentrums CERN, dem UNO-Forschungsinstitut UNITAR und der Universität Genf. Grey und seine Kollegen wollen weltweit Wissenschaftler dabei unterstützen, Bürgerforschungsprojekte aufzusetzen. Damit kratzen sie am zuweilen elitären Habitus der Forschung. Aber die riesigen Datenmengen, die bei vielen Projekten anfallen, und die begrenzten Möglichkeiten automatisierter Auswertung lassen diese Kooperationsform nur logisch erscheinen. "Es wäre doch schade, wenn die schönen Daten verkommen würden", meint Carolin Liefke vom Haus der Astronomie in Heidelberg.

Soziale Netzwerke haben dazu beigetragen, dass Citizen-Science-Projekte mitunter Tausende Mitstreiter finden. So wie Galaxy Zoo. Mehr als 250000 Hobbywissenschaftler haben binnen vier Jahren 800000 Aufnahmen des Weltraumteleskops Hubble begutachtet, um Galaxien als eher kugel- oder eher spiralförmig zu klassifizieren. "In der Mustererkennung und bei der räumlichen Wahrnehmung ist das menschliche Gehirn jedem Computer überlegen, weswegen hier praktisch von Hand klassifiziert werden muss", erklärt Liefke.

Diese – zunächst bittere – Erfahrung musste Galaxy-Zoo-Gründer und Astrophysiker Kevin Schawinski von der Universität Yale bei seiner Doktorarbeit machen. Er wollte mithilfe der Hubble-Bilder neue Erkenntnisse zur Evolution des Weltalls gewinnen und vertraute dabei anfangs auf ein Bilderkennungsprogramm, das die Galaxien klassifizieren sollte. Die Ergebnisse waren miserabel. Also klickte sich Schawinski Bild für Bild selber durch – eine Sisyphusarbeit. Frustriert berichtete er seinem Kollegen Chris Lintott von dem drohenden Aus seiner Promotion. Der hatte die zündende Idee: Warum die Fotos nicht ins Internet stellen und interessierte Laien darum bitten, Schritt für Schritt jede einzelne Galaxie nach festgelegten Kriterien zu beschreiben? Das kann jeder.

Schließlich, dachte sich Lintott, wühlen sich im Projekt Stardust@home ja auch schon Freiwillige durch 1,6 Millionen Aufnahmen vom Staubfänger einer NASA-Raumkapsel, um nach nur mikrometergroßen interstellaren Staubkörnern zu fahnden, die unter anderem Rückschlüsse auf frühere Supernova-Explosionen erlauben. Lintott behielt recht: Tatsächlich lockten auch die schillernden Fotos der Galaxien bereits in den ersten Tagen Tausende Freiwillige an. Bald war auch die holländische Musiklehrerin Hanny van Arkel mit von der Partie, die sich immer schon für das Weltall interessierte hatte. Dass sie in der Community einige Berühmtheit erlangen sollte, ahnte sie da noch nicht. Im Sternbild Kleiner Löwe stieß die Grundschullehrerin auf ein sonderbares blau leuchtendes Objekt. Sie stellte das Foto im Forum von Galaxy Zoo zur Diskussion, wo Laien und Profis heftig über "Hannys Ding", wie es bald nur noch genannt wurde, rätselten. Sogar das Weltraumteleskop Hubble wurde daraufhin auf das unbekannte Objekt ausgerichtet.

Es folgten Dutzende wissenschaftliche Veröffentlichungen, in denen Forscher zur Erkenntnis gelangten, dass ein Quasar, eine starke Radioquelle also, eine Gaswolke zum Leuchten gebracht hat. Der Quasar selbst ist wohl schon seit 100000 Jahren erloschen – Hannys Ding leuchtet aber immer noch in dem Licht, das einst von dem Quasar ausging. "Durch diese Entdeckung haben einige Wissenschaftler ihren Doktortitel gemacht", sagt Liefke. Van Arkel taucht zwar nun in den Fußnoten mancher Veröffentlichungen auf, doch an ihrem Leben als Grundschullehrerin hat sich nichts geändert.

Wenn schon keine akademische Ehren locken, was treibt Bürgerwissenschaftler dann an, ihre Freizeit in den Dienst der Forschung zu stellen? CERN-Physiker François Grey sieht mehrere mögliche Anreize: "Einige interessieren sich für die Wissenschaft, andere reizt der soziale Aspekt, und mancher sucht die intellektuelle Herausforderung, möchte sich mit anderen messen." Ruhm dürfte die wenigsten antreiben, meint auch der Astronom Florian Freistetter aus Jena, eher die demokratische Art zu forschen oder das Gefühl, "Teil eines großen Projekts zu sein".

Sogar feste Strukturen für die Anbahnung von Kooperationen haben sich schon etabliert: Auf der Internet-Plattform Zooniverse schlagen Wissenschaftler Projekte vor, die dann von den Betreibern der Citizen Science Alliance – einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern rund um die Galaxy-Zoo-Gründer – je nach Bedürftigkeit mit einem Auftritt in dieser sehr speziellen Kontaktbörse unterstützt werden. Derzeit sind mehr als 450000 Nutzer bei Zooniverse registriert – ein großes Heer allzeit bereiter Freizeitforscher. Zum Zug kommen Aufgaben, die relevant sind und die Laien bewältigen können, aktuell etwa das Projekt Solar Stormwatch, bei dem Bürgerwissenschaftler auf Stereo-Aufnahmen der Sonne deren Aktivität vermessen, woraus Wissenschaftler die Geschwindigkeit der Sonnenwinde berechnen und Raumfahrer rechtzeitig warnen können.

So viel Engagement stößt aber nicht überall auf Gegenliebe. Citizen-Science-Kritiker misstrauen den Daten, vermissen Standards und Kontrollen. CERN-Forscher Grey teilt diese Bedenken nicht – solange die Projekte sauber aufgesetzt sind. Heißt: Teilnehmer müssen sich zunächst in Tutorials für eine Aufgabe qualifizieren und Wissenschaftler die Daten validieren. Meist werde eine Aufgabe an mehrere Freiwillige verteilt und aus den Ergebnissen das statistische Mittel gebildet, so Grey. Bei großen Abweichungen der Einzelergebnisse wird die Aufgabe nochmals anderen Teilnehmern gestellt. Grey: "In der Praxis erzielen wir damit gleich gute oder gar bessere Ergebnisse, als es bei Experten der Fall ist." Diese Erfahrung teilt auch Galaxy-Zoo-Erfinder Schawinski. Hier wird jedes Bild einer Galaxie im Durchschnitt von 70 Bürgerwissenschaftlern klassifiziert, und die Ergebnisse werden computerbasiert ausgewertet. Kommen dabei Kraut und Rüben heraus, blicken Profis erneut auf die Bilder. Deren geschulter Blick muss aber nicht in jedem Fall zu besseren Ergebnissen führen: "Manchmal ist es sogar gut, wenn Laien unvoreingenommen eine Aufgabe bearbeiten, ohne eine These im Kopf zu haben", sagt Carolin Liefke.