4W

Was war. Was wird.

In Deutschland gehen die Leute für das Internet auf die Straße. Sogar in der norddeutschen Tiefebene, freut sich Hal Faber und beißt in ein Brioche. Es ist dieser Politikstil, der einen schlechten Beigeschmack hat. Marie Antoinette lässt grüßen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 75 Kommentare lesen
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.


*** Bekanntlich hat die Nicht-Hannoveranerin Marie Antoinette nicht gesagt, das Volk möge Kuchen essen, wenn kein Brot da ist: "S’ils n’ont pas de pain, qu’ils mangent de la brioche!" Was ihre Gegner kolportierten, stammt aus der Feder von Jean-Jacques Rousseau, der in seinen Confessions von einer hohen Prinzessin berichtet, die über die Hungersnot ihres Volkes unterrichtet wird und die nämliche blasierte Antwort gibt. Rousseau suchte eine bildhafte Illustration der adeligen Dekadenz und fand sie im wenig nahrhaften Weißbrot. Der praktisch gemeinte, völlig an der Wirklichkeit vorbeigehende Vorschlag gehört seitdem zur Standardausstattung der rhetorischen Werkzeugkiste. Das Volk mag ACTA nicht? Aber es muss doch an Marken glauben, es muss den Markenkram fressen, denn eine Kultur der Fälscher ist der Untergang aller Kultur.

*** Vor den Clouds des Internet, im Jahre 1968 mokierte sich Hugh Kenner über die Rückständigkeit einer Kultur, die auf immer perfekteren Reproduktionsverfahren beruht und dennoch Dinge wie das Urheberrecht und die Originalität für sich reklamiert: "Leben wir doch in einer Zeit der vorgedruckten Briefe, der Unterschriftenstempel, der allen verfügbaren Kongressberichte, der Tonbandmontagen, der Xerokopien und der Farbfotografien, der perfekt reproduzierten van Goghschen Sonnenblumen, der sorgsam gestellten Dokumentarfilme und der Abermillionen gleicher Suppenkonserven, die Körper mit Glasaugen und Goldzähnen ernähren." In den Zeiten der universalen technischen Reproduzierbarkeit hat ein sorgsam ausgewählter Trupp von Lobbyisten ein Abkommen ausgehandelt, das angeblich, von EU-Juristen kontrolliert, überaus fair sein soll. Die Rede ist von einem Rechtsdienstgutachten, dass dies bestätigt, aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Ein Gutachten über Verträge, die in weiten Teilen bei der Veröffentlichung geschwärzt sind, das steht in bester Tradition der Brioches. Auch die verwaschene Erklärung der deutschen Politik, ACTA "vorerst" nicht zu unterzeichnen, passt ins Beutelschema großer Politik. Die Zahlen über die ACTA-Demonstranten sind noch kippelig, aber wenn eine Minimalschätzung von 30.000 Demonstranten in 50 Städten an einem wirklich kalten Samstag spricht, ist das berümte "deutliche Zeichen" eine Exklamation.

*** Es ist nicht nur der Inhalt von ACTA, der Protest gebiert, sondern der durch und durch veraltete Politikstil im Zeitalter des Internet. Dieser Kommentar bringt die Sache auf den Punkt: "Und deshalb haben die Politiker einen riesigen Fehler gemacht. Denn heimlich, still und leise funktioniert bei diesem Thema nicht mehr, auch wenn man nur 'Business as usual' im Kopf gehabt hat: Zu viele Menschen interessiert die Zukunft des Internet mehr als das wirtschaftliche Schicksal von Griechenland." So zeigen die vielen Demonstrationen gegen ACTA in Deutschland, dass wir wahrhaftig in großen Umbruchszeiten leben, was viele Leithammel in Politik und Wirtschaft nicht verstanden haben. Das schreibe ich am europäischen Notruftag, an dem man am einen Notruf an die EU absetzen könnte, dass der Kontakt zum Volk verloren geht. Was heißt zur Not? Zu Gerechtigkeit im Sinne aller Menschen darf auch ein Notfall-Fax (PDF-Datei) abgeschickt werden. Dass diese Möglichkeit im Zeitalter des Internets abgeschafft werden soll, ist auch so eine ausgrenzende Gedankenlosigkeit.

*** Der Notruftag ist nicht von ungefähr identisch mit dem Geburtstag von dem Supererfinder Thomas Alva Edison, der Vieles kommerzialisierte oder begründete, was zu den modernen Errungenschaften der westlichen Welt gehört. Dazu gehört nicht nur der Notruf- bzw. Notfall-Knopf. Man denke nur an das zwei Kilo schwere Grammophone als Preis, den Musiker bei den Grammy Awards bekommen. Zum Start im Jahre 1959 war das noch der Eddie in Gedenken an Edison. Bei diesem Ereignis feiert sich ausgiebig ein Duopol von bedenktlicher Marktmacht, dass einen Extraprofit daraus bezieht, wenn die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle im Internet verhindert werden. Die Kleinen sollen klein bleiben, das ist die Devise. Und diesen Grammy für Milli Vanilli, den hat es nie gegeben. Was bleibt ist ein festes Daumendrücken für die Bear Family und ihre Bristol Sessions, und dass die Leute klar genug im Kopf sind.

*** Natürlich reagiert die Politik auf den Umbruch, eben auf ihre Weise. Da soll ein ständiger Bundestagsausschuss für Netzpolitik gebildet werden, da gibt es Pläne, die Internet-Kommission des Bundestages zu einer Dauertagung zu machen. Über allem aber schwebt Merkel und der neue Bürgerdialog über Deutschland, nach Trafficaufkommen derzeit die erfolgreichste Webseite unserer Regierung. Über 4000 Vorschläge sind online und die höchste deutsche Bloggerin bedankt sich dafür. Nachdem das Bewertungssystem nach Angaben der Merkel-Mitarbeiter nunmehr fälschungssicher Klickereibetrug abwürgt, sollen die Zahlen realistisch sein. Mit 27310 Stimmen führt die offene Diskussion über den Islam vor der Diskussion über die Legalisierung von Cannabis und der Forderung, ACTA zu stoppen. Mit 6 Stimmen weit abgeschlagen im Crowdthinking zeigt der Vorschlag eines europaweiten Solidaritätszuschlages für Griechenland, was den Netzbürger bewegt. Ob er auch beim Bürgergespräch der Bundeskanzlerin in Erfurt eine Stimme hat? Wo ein Krümel, ist auch ein Kuchen.

Was wird.

Die Woche begann einer Klarstellung des Bundeskriminalamtes zu einer Studie des Bundeskriminalamtes zu "retrograden Verkehrsdaten", im Internet-Volksmund besser als Vorratsdatenspeicherung bekannt. Weil aus der Studie durchaus abgelesen werden kann, dass das Interesse an IP-Adressen weit größer ist als die Speicherung von Telefondaten, reagierte das BKA mit einer Gegendarstellung unter dem schönen Titel BKA-Erhebung zu den Auswirkungen des Wegfalls der Vorratsdatenspeicherung wird teilweise unzutreffend interpretiert. Teilweise unzutreffend ist laut BKA demnach die Ansicht, dass Telefondaten unwichtig geworden sind. Die nächste Woche startet mit dem europäischen Polizeikongress unter dem hübschen Dreisatz "Cyber - Homegrown - International". Auf dem Kongress betreibt das BKA ein eigenes, nichtöffentliches Forum, auf dem Themen wie Vorratsdatenmining und extrem Trojaning von Praktikern behandelt werden. Es gehört zu den deutschen Absonderlichkeiten, dass in denselben Räumlichkeiten der Chaos Computer Club tagte und ausführlich seine Dekonstruktion des Staatstrojaners feierte. Auch so kann ein Ökosystem definiert werden - und Orwell lacht. Spannend dürfte das Forum zum Cyberterrorismus werden, hat doch der Behördenspiegel als Kongressveranstalter aus "gut unterichteten Kreisen" gemeldet, dass die USA an eigenen Bot-Netzen arbeiten, mit denen Gegenschläge auf Cyberangriffe ausgeübt werden können. Fehlt nur noch der richtige Angreifer, dann spannt eine ausgetüftelte Verteidigungsmaschinerie den Schutzschild über uns, auf dass der digitale Himmel uns nicht auf den Kopf fällt.

Mit einem Schmankerl geht die Woche zu Ende. Ausgerechnet in Osnabrück, wo Mobilfunktelefone selten und teuer sind, kann das Ende eines Mammut-Prozesses gefeiert werden, in dem einer bekannten Persönlichkeit das Ende einer Zulassung als Anwalt droht. Es gibt sie noch, die guten Dinge. Kuchen für das Volk, Hartkeks den Erpressern. (vbr)