ACTA: EU-Abgeordnete nehmen Handelskommissar in die Zange

EU-Parlamentarier haben in der ersten Aussprache zu dem Anti-Piraterie-Abkommen im federführenden Handelsausschuss die Frage aufgeworfen, ob sich der große Aufwand zur Klärung offener Punkte überhaupt noch lohne.

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In der ersten Aussprache zum umkämpften Anti-Piraterie-Abkommen ACTA im federführenden Handelsausschuss des EU-Parlaments haben Abgeordnete am Donnerstag hinterfragt, ob sich der große Aufwand lohnt, die zahlreichen offenen Punkte rund um den Vertrag zu klären. "Wir machen viele müde Klimmzüge, um zu klären, was das alles bedeutet", gab der SPD-Abgeordnete Bernd Lange gegenüber Handelskommissar Karel De Gucht zu bedenken. Dabei sei völlig offen, ob sich eines Tages ein echter Mehrwert herauskristallisiere.

Wenn nur der Kampf gegen Produktfälschungen Teil des Abkommens wäre, gäbe es kaum Probleme mit der Ratifizierung, erklärte Lange. Unglücklicherweise hätten die Verhandlungspartner aber ein Kapitel zum digitalen Bereich angefügt, in dem Kopieren etwas ganz anderes bedeute. Es dürfe nicht einfach ein altes System einer neuen Technik übergestülpt werden. Vielmehr seien neue Formen der Rechtesicherung im Internet nötig. Lange plädierte daher dafür, über eine umfassende Copyright-Reform nachzudenken.

Generell äußerte die große Mehrzahl der Redner schwere Bedenken. Carl Schlyter von den Grünen bezweifelte, dass der Vertrag am bestehenden EU-Recht nichts ändern werde. Er zeigte sich besorgt, dass trotz gegenläufiger Versicherungen des Kommissars Aktivitäten der Endnutzer eingeschränkt, Laptops oder MP3-Player Reisender an Grenzen durchsucht sowie die Meinungs- und Informationsfreiheit bedroht werden könnten. Da selbst der Juristische Dienst des Parlaments keine klare Aussagen über die Auswirkungen machen könne, seien Kollateralschäden zu befürchten.

Das Abkommen sei in einem überkommenen Politikstil beschlossen worden, meinte Helmut Scholz von den Linken. Schwellenländer, an die sich der Vertrag eigentlich richte, seien außen vor geblieben und lehnten einen Anschluss ab. Der CDU-Abgeordnete Daniel Caspary erinnerte daran, dass beim Klimaschutz auch die Hauptverschmutzer nicht mit am Verhandlungstisch säßen. Unisono mit einem Abgesandten des mitberatenden Ausschusses für Inneres und Bürgerrechte machte Caspary aber deutlich, dass der Vertrag durchfalle, wenn die geplante Prüfung durch den EuGH Sorgen um die Einschränkung der Internetfreiheit bestätige.

De Gucht hatte schon am Mittwochabend bedauert (PDF-Datei), dass es viele Falschdarstellungen zu ACTA gebe. Es drohe kein Albtraum und kein Big Brother, vielmehr hänge die Zukunft und die Wettbewerbsfähigkeit der EU von dem Abkommen ab. Ein Mobiltelefon von Nokia werde heutzutage zwar höchstwahrscheinlich größtenteils in China gefertigt, über 50 Prozent des Werts des Produkts sei aber von europäischen Designern und Ingenieuren geschaffen worden. Der Hersteller brauche daher international Sicherheiten für seine Markenzeichen, seine Designmuster und seine Patentrechte. Die EU bemühe sich so, mit ACTA das eigene ausbalancierte Schutzsystem über ihre Grenzen hinaus auszuweiten.

Der Belgier legte seine Hand als Liberaler dafür ins Feuer, dass der Vertrag nicht ungebührlich in verbriefte europäische Bürgerrechte eingreife. Es gehe darum, Urheberrechtsverletzungen im "gewerblichen Ausmaß" zu verfolgen, was lange in der EU schon so festgeschrieben sei. Sanktionen wie "Three Strikes" mit Internetsperren seien nicht Teil des Abkommens, wohl aber bereits Gesetz in Mitgliedsstaaten wie Frankreich. De Gucht fand unverständlich, dass viele EU-Länder wie Polen oder Deutschland die ACTA-Ratifizierung auf die lange Bank geschoben haben. Diese hätten wohl "die ganze Zeit geschlafen", da sie die Übereinkunft im EU-Rat mitgetragen hätten.

Die Bürgerrechtsorganisation La Quadrature du Net warf dem Kommissar Falschspiel vor. ACTA legt ihrer Meinung nach der dringend benötigten Urheberrechtsreform Steine in den Weg und erlaubt Rechteinhabern, hohe Schadensersatzforderungen auch gegen private, von Strafsanktionen größtenteils ausgenommene Nutzer durchzusetzen. Der kanadische Rechtsprofessor Michael Geist unterstrich in einem Workshop im Parlament, dass die Schäden des Vertrags dessen potenzielle Vorzüge bei weitem überstiegen. Es gebe zahlreiche Gründe für die Abgeordneten, die Übereinkunft in ihrer aktuellen Form zurückzuweisen.

Unterdessen plant die Bundesregierung offenbar, trotz des Aufschubs ACTA mittelfristig zu unterzeichnen. Auf eine Anfrage des grünen Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz antwortete das Justizministerium, dass nur ein konkreter Termin dafür und die "zeitlichen Planungen zum Ratifikationsverfahren" noch nicht feststünden. Berlin wolle nur abwarten, bis sich die Wogen geglättet haben, meinte von Notz darauf. Gegenüber heise online sprach er von einem "vergifteten Verfahren", das "in seiner Grundatmung" nicht gewünscht sei und durch "etwas Intelligenteres" ersetzt werden müsse. (anw)