eVoting: Nur die letzte Stimme zählt

Wenn die Einhaltung der Wahlgrundsätze bei Online-Wahlen zum Problem wird, ist das Re-Engineering des Wahlprozesses die Lösung?

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Von
  • Richard Sietmann

Ein Problem mit Online-Wahlen ist die Wahrung des Wahlgeheimnisses. Dieses soll nach herrschender Meinung nicht nur sicherstellen, dass der Wähler sein Votum frei von Druck oder Beeinflussung abgibt, sondern zugleich allen anderen Wählern die Gewissheit geben, dass sich der Gleichheitsgrundsatz – "ein Wähler, eine Stimme" – nicht durch Stimmenkauf aushebeln lässt. Wenn nun aber jeder von zu Hause oder vom Arbeitsplatz aus seine Stimme online abgeben kann, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die Familie, Arbeitskollegen oder Interessengruppen in ungebührlicher Weise auf die Entscheidung Einfluss nehmen. "Es erscheint nahezu unmöglich, in unbeaufsichtigten Distanzwahl-Szenarien die familiäre Stimmabgabe durch technische Maßnahmen zu verhindern", konzediert denn auch der Kommentar-Anhang zu den eVoting-Standards des Europarats.

Das Problem tritt schon bei der Briefwahl auf. Die hat in Deutschland das Bundesverfassungsgericht in einschlägigen Entscheidungen deshalb nur unter der Bedingung als zulässig gebilligt, dass sie ein Ausnahmefall bleibt; nur dann könnte die Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses hingenommen werden. Als Ausnahmefall sehen die Verfechter Internet-Wahlen nun gerade nicht: Die Online-Stimmabgabe soll ja irgendwann der Regelfall werden.

Am zweiten Tag des Internationalen Workshop on Electronic Voting (Livecast) kreisten die Diskussionen heute um die Frage, ob die Möglichkeit zu einer mehrfachen Stimmabgabe einen Stimmenkauf ausschließen würde. Nach diesem Modell, das in Estland bereits praktiziert wird, kommt die Online-Wahl wie die Briefwahl nur im Vorfeld zum Einsatz; die traditionelle Präsenzwahl mit Papierstimmzetteln am Wahltag bleibt erhalten. Zusätzlich erhält der Wähler jedoch die Möglichkeit, ein elektronisch abgegebenes Votum jederzeit wieder zu ändern; das alte steckt kryptografisch verschlüsselt wie in einem Briefwahlumschlag auf dem Wahlserver und wird quasi zerrissen, sobald das neue eintrifft, sodass jeweils das letzte gültig ist. Entscheidet sich der Bürger schließlich dennoch zum Gang ins Wahllokal, behält der Papierstimmzettel das letzte Wort.

"Die Möglichkeit zur Änderung des Votums macht den Stimmenkauf uninteressant", erklärte Ülle Madise vom Nationalen Wahlamt Estlands. "Selbst wenn das Wahlgeheimnis gebrochen wird, gibt es keine Gewißheit, dass es sich um das endgültige Votum handelt", meinte Gerhard Skagestein vom Fachbereich Informatik der Universität Oslo. Seiner Ansicht nach wird es mit diesem Verfahren "keinen Markt für den Kauf oder Verkauf von Stimmen geben, weil ein Käufer nie sicher sein kann, ob der Wähler vielleicht noch am Wahltag selbst einen anderen Stimmzettel abgibt, und der Wähler, der sich unter Druck gesetzt fühlt, kann anders wählen, sobald der Druck verschwunden ist".

Auf ungeteilte Zustimmung stieß der Vorschlag zum Re-Engineering des Wahlverfahrensrechts indes nicht. "Wenn wir das nur als technisches Problem ansehen, dann ist dies vielleicht eine technische Lösung", meinte die Französin Laurence Monnoyer-Smith von der Technischen Universität Compiegne und machte keinen Hehl daraus, dass sie es für einfacher hält, "auf solch ein System ganz zu verzichten als sich mit dessen Komplexität herumzuschlagen".

Auch die Internetwahl-Expertin Melanie Volkamer vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) ist sich nicht sicher, ob die mehrfache Stimmabgabe tatsächlich der Stein der Weisen ist. Man könne nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass die letzte Stimme diejenige ist, die den Wählerwillen wirklich widerspiegelt; zudem sei zu befürchten, dass die Seriosität und Wertschätzung der Wahl durch die beliebige Änderungsmöglichkeit beeinträchtigt würde. Diese sozialen und politischen Aspekte seien möglicherweise "schwerwiegend genug, dass wir die Idee der mehrfachen Stimmabgabe aufgeben müssen".

Siehe dazu auch:

  • eVoting: "Allmählich wird es ernst"
  • E-Voting: Ja, aber ..., Bedenken gegen die Wahlcomputer von Nedap, c't 16/06, Seite 54
  • Naive E-Wähler, Rechtliche und technische Probleme bei Wahlcomputern in Deutschland, c't 15/06, Seite 104
  • Der Stift-Kompromiss, Das Hamburger Landeswahlamt propagiert fürs e-Voting den digitalen Wahlstift, c't 6/06, S. 90
  • "Der schleichende Verfall der öffentlichen Kontrolle", Der 22C3 diskutiert über Wahlen per Internet und E-Voting, c't 2/06, S. 20
  • E -Voting vs. Verfassung, Rechtliche Bedenken bei elektronischen Wahlmaschinen in Deutschland, c't 1/06, S. 80
  • Elektronische Wahlen?, Einige verfassungsrechtliche Fragen, c't 23/05, S. 228
  • Dreimal drücken – fertig?, E-Voting-Großeinsatz bei der Bundestagswahl, c't 19/05, S. 54
  • Trial and Error, Streit um technische Richtlinien für US-Wahlcomputer, c't 17/05, S. 54
  • E-Voting – ein Spiel mit dem Feuer, Elektronische Wahlsysteme bei den US-Präsidentschaftswahlen 2004, c't 23/04, S. 100
  • Verführerischer Charme ..., ... aber die Einführung allgemeiner Online-Wahlen bleibt umstritten, c't 11/01, S. 22
  • Der virtuelle Wähler, Zweifel am Urnengang mittels Internet, c't 8/01, S. 70

(Richard Sietmann) / (jk)