Das automatische Innenohr

Ein Würzburger Physiker hat einen Algorithmus entwickelt, mit dessen Hilfe sich auch ein Klavier elektronisch richtig stimmen lassen könnte - was bisher nur die Hörfertigkeit von Klavierstimmern vermochte.

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  • KFC

Ein Würzburger Physiker hat einen Algorithmus entwickelt, mit dessen Hilfe sich auch ein Klavier elektronisch richtig stimmen lassen könnte - was bisher nur die Hörfertigkeit von Klavierstimmern vermochte.

Trotz der fortschreitenden Automatisierung gibt es noch immer Fähigkeiten, in denen ein Mensch den Computer übertrifft. Eine davon ist das Stimmen eines Klaviers, weil das menschliche Gehör Frequenzen anders wahrnimmt als ein Sensor. Versuche, Klaviere maschinell zu stimmen, fielen bislang regelmäßig unbefriedigend aus. Der Würzburger Physiker Haye Hinrichsen hat nun ein Konzept entwickelt, das die Bastion der Klavierstimmer gefährden könnte: das „Entropie-basierte“ Stimmen.

Schlägt man die Saite eines Saiteninstruments an, vibriert sie in einer Vielzahl von überlagerten Schwingungen, die zusammen den Ton ausmachen. Der setzt sich zusammen aus einem Grundton einer bestimmten Frequenz und Obertönen mit Frequenzen, die ein ganzzahliges Vielfaches der Grundfrequenz sind – die doppelte, die dreifache, die vierfache Frequenz und so weiter. Die Frequenzen der Obertöne nehmen also linear zu.

Musik besteht aus vielen solcher Töne, die in der traditionellen europäischen Musik in Oktaven angeordnet sind. Das bedeutet, dass die Grundfrequenz eines Tons sich beim Sprung um eine Oktave – etwa von A1, dem Kammerton, zu A2 – verdoppelt. Von Oktave zu Oktave nimmt die Frequenz deshalb exponentiell und nicht linear zu. Und darin steckt ein Problem: Die lineare Zunahme der Oberton-Frequenzen deckt sich nicht exakt mit der exponentiellen Frequenzzunahme des Oktavensystems.

Nun sind die Tonleitern der europäischen Musik so angelegt, dass sich die Frequenzen benachbarter Töne in einem immer in einem festen Verhältnis stehen (dessen Wert ist 21/12). Sie befinden sich in einer so genannten gleichstufigen – oder auch gleichtemperierten – Stimmung. Gleichstufig bedeutet, dass die Tonhöhen auf einer logarithmischen Frequenzskala denselben Abstand haben.

Die Oktave C4 bis C5: Die weißen Tasten auf der Tonleiter (a) passen mit den Obertönen (b) zusammen, die Halbtonschritte (schwarze Tasten) sind im Frequenzspektrum (b) jedoch versetzt. (c) stellt die gleichstufige Stimmung dar, die nur bei 440 Hertz mit den beiden anderen Skalen zusammenfällt.

(Bild: Haye Hinrichsen)

Liegen in diesem System Töne eine Oktave auseinander, können sie miteinander stimmen, während Quinten und Quarten ein klitzekleines bisschen daneben liegen. Ein professioneller Klavierstimmer löst dieses Problem mit dem Verfahren der „Streckung“: Er streckt manche Intervalle zwischen zwei Tönen, so dass der Gesamtklang wieder „stimmig“ ist.

Dummerweise ist die nötige Streckung nicht für alle Saiteninstrumente gleich, sondern hängt von der Dicke und Spannung der Saiten ab. Deshalb bieten elektronische Stimmgeräte eine „Durchschnittsstreckung“ für verschiedene Instrumente an. Was für Gitarren gut funktioniert, bringt beim Klavier schon durchwachsene Ergebnisse. Viele Pianisten ziehen denn auch einen nach dem menschlichen Ohr gestimmten Flügel einem elektronisch gestimmten vor.

Haye Hinrichsens Ansatz ist nun, das, was ein guter Klavierstimmer macht, mathematisch als einen Fall von „Entropie-Minimierung“ zu formulieren. Das menschliche Gehör vergleicht nämlich nicht nur die Grundtöne zweier Musiknoten, die eine Oktave auseinander sind, sondern auch deren Obertöne. Die passen jedoch wegen des logarithimischen Frequenzanstiegs nicht immer so exakt zueinander wie die Grundfrequenzen. Es kommt zu einer so genannten Schwebung: Die Frequenzen zweier Obertöne weichen in ihrem Verhältnis minimal vom „richtigen“ Wert ab. Diese Abweichung versucht der Klavierstimmer zu verringern – bis zu dem Punkt, an dem das Innenohr zwei unterschiedliche Frequenzen nicht mehr auflösen kann.

Hinrichsen stimmt in seinem Verfahren ein Klavier zunächst gleichstufig. Dann teilt er das Audio-Frequenzspektrum in Intervalle ein, die das Innenohr gerade noch auflösen kann. Nun kommt die Shannon-Entropie ins Spiel, die ein Maß für den Informationsgehalt eines Zeichens oder Zeichensystems ist (in der thermodynamischen Entropie entspricht diesem Informationsgehalt das Nichtwissen über die Realisierung von Mikrozuständen, in denen sich ein physikalisches System befinden kann). Die Shannon-Entropie zweier Spektrallinien oder benachbarter Frequenzen nimmt ab, je mehr sie überlappen.

In Hinrichsens Verfahren wird erst die Gesamtentropie einer Reihe von Tönen ermittelt. Dann werden die Frequenzen einzelner Obertöne zufällig variiert. Ist die neu berechnete Shannon-Entropie niedriger als vorher, sind die veränderten Töne näher an einer richtigen Stimmung als vorher. Anschließend werden weitere Tonfrequenzen leicht verändert, bis die Shannon-Entropie einen bestimmten Wert nicht mehr unterschreitet. An diesem Punkt gilt das Klavier dann als gestimmt.

Theoretisch könnte Hinrichsens Algorithmus auch in einem lokalen Entropieminimum hängen bleiben. Im Vergleich mit der Arbeit eines professionellen Klavierstimmers schneide sein System aber recht gut ab, sagt er. Der Algorithmus selbst sei so simpel, dass man ihn auch in billigen Stimmgeräten anwenden könne. „Die Implementierung ist sehr einfach“, versichert Hinrichsen. Sollte er recht behalten, dürfte irgendwann der nächste Berufsstand dem Fortschritt der Computertechnik weichen.

Das Paper:

Haye Hinrichsen: "Entropy-based Tuning of Musical Instruments ", arXiv.org, 2.4.2012

(nbo)