Europaweites Fahrzeug-Notrufsystem kommt frühestens 2010 - oder gar nicht?

Die Bundesregierung hat auf eine Kleine Anfrage der FDP zur Einführung des Fahrzeug-Notrufsystems "eCall" in Europa geantwortet. Neufahrzeuge sollen demnach ab September 2010 mit GPS/GSM-Modulen zur automatischen Positionsermittlung ausgestattet werden.

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Von
  • Peter-Michael Ziegler

Der Gedanke ist hehr: Rund 2500 Menschenleben könnten Schätzungen zufolge jährlich in Europa gerettet werden, würde man alle Fahrzeuge mit einem Notrufsystem ausstatten, das bei einem Unfall automatisch die Notrufnummer 112 wählt und über Satellitennavigation ermittelte Positionsdaten zum Unfallort per Mobilfunk an eine Zentrale übermittelt. Diese würde dann umgehend die nächstgelegene Rettungsleitstelle von dem Vorfall in Kenntnis setzen, und die Zeit zwischen Unfall und dem Eintreffen von Rettungskräften ließe sich zumindest in einigen Fällen deutlich reduzieren. Die Überlebenschancen für Schwerverletzte würden steigen. Bereits im Jahr 2005 hatten sich Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten und die Industrie deshalb darauf verständigt, Grundzüge eines europaweit einheitlichen Notrufsystems festzulegen, das geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen. Getauft wurde das System "eCall". Die ursprünglichen Pläne sahen vor, dass jedes Neufahrzeug in Europa ab 2009 mit zusätzlicher Hard- und Software ausgestattet wird, welche die eCall-Technik unterstützt.

Wie gesagt, der Gedanke ist hehr – doch der Teufel liegt wie so oft im Detail: Bisher hat nur ein Drittel der EU-Mitgliedsstaaten ein Grundsatzpapier zur eCall-Einführung unterschrieben. Die Kosten für eine flächendeckende Einführung des eCall-Systems würden schnell einen Milliardenbetrag erreichen, abgewälzt auf die Bürger, die sich bei einem Neuwagenkauf gar nicht mehr gegen den Einbau von eCall-Technik wehren könnten. Und längst sind nicht alle datenschutzrechlichen Probleme ausreichend diskutiert, die eine eCall-Einführung heraufbeschwören würde. Doch hinter den Kulissen wird aufs Gaspedal getreten. So unterzeichnete Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee im Rahmen einer Fachkonferenz in Berlin zuletzt eine eCall-Erklärung (Memorandum of Understanding for Realisation of Interoperable In-Vehicle eCall), die von Mitgliedern der FDP-Bundestagsfraktion zum Anlass genommen wurde, eine Kleine Anfrage (PDF-Datei) an die Bundesregierung zu richten.

Deren Antwort (PDF-Datei) liegt inzwischen vor. Danach haben außer Deutschland bislang nur acht Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (Österreich, Finnland, Schweden, Slowenien, Litauen, Italien, Griechenland und Zypern) sowie drei Nichtmitgliedsstaaten (Schweiz, Norwegen und Island) die Absichtserklärung zur Einführung des automatischen Fahrzeug-Notrufsystems unterzeichnet. Wichtige EU-Länder wie Frankreich, Spanien oder das Vereinigte Königreich (England, Schottland, Wales und Nordirland) fehlen. Dennoch setzt Bundesverkehrsminister Tiefensee in der Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP bereits einen neuen Termin zur Einführung von eCall-Technik: Ab September 2010 solle das Notrufsystem in "neu auf den Markt kommenden Pkw" angeboten werden, berichtet Tiefensee. Der einstige Termin "2009" hat sich damit also still und heimlich erübrigt. Auf die Frage, ob die Normen und Spezifikationen für das eCall-System denn schon festgelegt seien, antwortet die Bundesregierung mit einem knappen, aber klaren "Nein".

Sollte das eCall-System tatsächlich Ende 2010 kommen, hätte dies für den Bürger weit reichende Folgen. Vorgesehen ist nämlich, dass das Notrufsystem in einer Basisversion verpflichtend für alle Neufahrzeuge wird. Dies bedeutet, dass die Fahrzeuge nicht nur mit einem Satellitennavigations-Emfangsmodul, sondern auch mit einem GSM-Sendemodul (mit oder ohne SIM-Karte) ausgestattet werden müssen. Während mit GPS- (später auch Galileo-)Daten der genaue Standort des Fahrzeugs ermittelt wird, benötigt man das GSM-Modul zur Übertragung dieser Positionsdaten in bestehenden Mobilfunknetzen samt weiterer Informationen wie Zeitstempel, Fahrzeugidentifizierungsnummer, Name des Dienstleistungsanbieters oder auch des eCall-Qualifiers. Der Qualifier ist ein Datensatz, der einer Zentrale (Public Safety Answering Point, PSAP), mitteilt, ob der Notruf automatisch (etwa beim Auslösen von Airbags) oder manuell von den Fahrzeuginsassen abgesetzt wurde. Letzteres soll verhindern, dass Verunglückte trotz eCall-System ohne Hilfe bleiben, etwa wenn Airbag-Sensoren keinen Impuls zum automatischen Absetzen eines Notrufs geben.

Obwohl laut Erklärung der Bundesregierung bislang keinerlei Normen und Spezifikationen für das eCall-System existieren, sieht sich Verkehrsminister Tiefensee bereits in der Lage, Preise für die Hardware eines im Auto installierten Notruf-Basissystems anzugeben. Diese würden nach "derzeitigen Kostenschätzungen" bei "unter 100 Euro" liegen. Im Nachsatz heißt es aber gleich, insbesondere im Fall erweiterter Leistungen werde "der Markt Einfluss auf den Preis haben". Branchenkreisen zufolge kostet ein vernünftiges Notrufsystem jedoch mindestens 400 Euro. Schaut man sich die Liste der weiteren Unterzeichner des "Memorandum of Understanding for Realisation of Interoperable In-Vehicle eCall" an, könnte man den Eindruck gewinnen, dass der Druck der Industrie auf den Staat in Sachen eCall-Einführung womöglich deutlich größer ist, als umgekehrt: Offenbar winkt den Industriepartnern ein Milliardengeschäft, das sich mit Hilfe der Politik den Autofahrern aufdrücken lässt. So finden sich in der Liste illustre Namen wie Bosch, Siemens VDO, Continental, Motorola, Sagem, Peiker oder auch die Allianz AG.

Für die Allianz beispielsweise könnte eine eCall-Zwangsverpflichtung zu Überlegungen führen, die sowieso schon vorhandene Technik für neue Versicherungsangebote zu nutzen, etwa ein satellitengestütztes Prämienmodell, wie es der österreichische Autoversicherer Uniqua mit NoVi (Nutzungsoptimierte Versicherung) schon testet: Die Versicherungstarife hängen davon ab, wie viele Kilometer man zu welcher Tageszeit auf welchen Straßen zurücklegt. Dazu werden die Fahrzeuge per GPS lokalisiert und die Positionsdaten über das Handy-Netz an einen Zentralrechner übertragen. Dieser Computer vergleicht die GPS-Daten mit digitalisiertem Kartenmaterial und ermittelt Fahrkilometer und Strecken, die schließlich zur Prämienkalkulation herangezogen werden. Vor dem Hintergrund umfassender Maßnahmen zur Eingrenzung der Terrorgefahr dürfte es allerdings auch nicht lange dauern, bis Strafverfolger Anspruch auf solche Daten für "präventive Abwehrmaßnahmen" erheben.

Datenschützer stehen dem eCall-System denn auch gespalten gegenüber. Zwar erkenne man die sozioökonomischen Vorteile an, die die breite Einführung des eCall-Dienstes für die Bürger mit sich bringen könnte, erklärt die Artikel-29-Datenschutzgruppe, in der die europäischen Datenschützer zusammengeschlossen sind, der eCall-Dienst führe aber zu Eingriffen in den Datenschutz, "die hervorgehoben und in angemessener Weise behandelt werden müssen". Ein automatisch durch ein Gerät oder manuell ausgelöster und über Mobilfunknetze übertragener Notruf, der zur geografischen Standortbestimmung des Notfalls führt, sei grundsätzlich zulässig, bedürfe aber einer spezifischen Rechtsgrundlage sowie hinreichenden Vorkehrungen im Bereich des Datenschutzes. Weder das eine noch das andere ist bisher geschehen. Generell empfiehlt die Artikel-29-Datenschutzgruppe ein "Konzept der freiwilligen Einführung des eCall-Dienstes" und nicht die Verpflichtung zur Einführung.

Abgeschlossen ist unterdessen bereits ein eCall-Pilotprojekt in Österreich: Von Juli bis September 2006 testeten rund 100 freiwillige Teilnehmer ein Konzept, das dem geplanten eCall-System ähneln soll. In ihren Fahrzeugen wurden GPS/GSM-Module mit Crash-Sensor sowie eine Notfalltaste für manuelle Notrufe eingebaut. Die Kommunikation wurde über Mobilcom Austria abgewickelt. Jeder Fahrer wurde angewiesen, im Testzeitraum mindestens zehn Alarme per Notfalltaste abzugeben – Anweisungen, den Wagen vorsätzlich in die Mauer zu setzen, um den eingebauten Crash-Sensor zu testen, wurden verständlicherweise nicht erteilt. Bei jedem Alarm wurde zum einen eine SMS abgeschickt, zum anderen ein direkter Sprachanruf zum PSAP initiiert. Anschließend wurden die Zeiten notiert, die zwischen Alarmauslösung und Reaktion der Zentrale lagen. Dabei zeigte sich, dass 3 Prozent der Sprachanrufe und 2 Prozent der Textnachrichten gar nicht ankamen.

Die Projektverantwortlichen halten aber fest, dass grundsätzlich gesagt werden könne, "dass sowohl der reine Sprachanruf als auch die Übertragung per SMS valide Instrumente darstellen, um Notfälle zu übertragen". Rund 72 Prozent der Alarme hätten innerhalb von zwei Minuten beantwortet werden können, weitere zwölf Prozent dann innerhalb der dritten und vierten Minute. Keine Werte gibt es jedoch hinsichtlich des wichtigsten eCall-Aspekts: Wie viel Zeit vergeht, bis Rettungskräfte am Unfallort eintreffen? Offenbar wollte oder durfte man die Rettungsdienste beim österreichischen Pilotversuch nicht für Testzwecke in Anspruch nehmen. Ob die Einführung eines verpflichtenden eCall-Systems in Europa die hohen Erwartungen auch tatsächlich erfüllen kann, bleibt also weiterhin ungewiss. BMW jedenfalls bietet im Rahmen von Assist bereits ein automatisches Notrufsystem auf freiwilliger Basis an. Und auch Mercedes plant gemeinsam mit anderen Autobauern wie Audi, VW und Porsche die Einführung eines solchen Notrufsystems – ebenfalls auf freiwilliger Basis. (pmz)