Wikipedia nicht mehr ganz offen

Die Affäre um einen verleumderischen Artikel im freien Enzyklopädieprojekt Wikipedia hat unvermutet weitgehende Konsequenzen: In der englischsprachigen Ausgabe wurde die Erstellung neuer Artikel für nicht angemeldete Nutzer zunächst unterbunden.

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Von
  • Torsten Kleinz

Die Affäre um einen verleumderischen Artikel im freien Enzyklopädieprojekt Wikipedia hat unvermutet weitgehende Konsequenzen. In der englischsprachigen Ausgabe wurde die Erstellung neuer Artikel für nicht angemeldete Nutzer zunächst unterbunden. Die deutschsprachige Wikipedia ist nicht von der Maßnahme betroffen.

Auslöser für diesen unerwarteten Schritt war ein Artikel über den prominenten US-Journalisten John Seigenthaler. Der hatte seine eigene Biographie in der Wikipedia nachgeschlagen und erschrocken festgestellt, dass ihm dort eine Verwicklung in den Mord an US-Präsidenten Kennedy unterstellt wurde. Der 78-jährige veröffentlichte dies in einer Kolumne der Zeitung USA Today und stieß damit auf breites Medienecho. In einem Interview beim US-Nachrichtensender CNN geriet Wikipedia-Gründer Jimmy Wales in die Defensive.

Die Episode war nur ein weiterer Vorfall in einer länger andauernden Qualitätsdebatte. Schon im Oktober hatte sich Wales enttäuscht über die Qualität von so prominenten Artikeln wie den über Microsoft-Gründer Bill Gates und die Schauspielerin Jane Fonda gezeigt. Obwohl diese Artikel gut besucht und verlinkt waren, waren sie nach Wales Ansicht nur "unlesbarer Müll" und kaum mit dem Anspruch zu vereinbaren, die Encyclopedia Britannica qualitativ zu überflügeln.

Auch der Artikel über Seigenthaler weckte Zweifel an den Qualitätsmechanismen der Wikipedia: Wie Wales in seiner Analyse feststellt, war der Artikel von einem anonymen User angelegt und anschließend überprüft worden – allerdings wurden nur Rechtschreibefehler und Formalien verbessert, der Part mit den unbelegten Vorwürfen gegen Seigenthaler entging dem freiwilligen Korrektor. Obwohl der Artikel in der Wikipedia gut verlinkt war, waren niemanden sonst die Verdächtigungen aufgefallen. Auf diese Weise war die falsche Biographie auch auf anderen Webseiten gelandet, die sich bei den Wikipedia-Inhalten bedienen und noch Wochen nach der Korrektur im Internet zu lesen.

Mit der Einschränkung für unangemeldete Nutzer werden erstmals relevante Schranken für die Mitarbeit bei der Wikipedia aufgestellt. Zwar können die Nutzer weiterhin bestehende Artikel editieren, das Anlegen von neuen Artikeln wurde jedoch unterbunden. Artikelwünsche können in einer Liste eingetragen werden. Wales bezeichnet die Änderung als "Experiment" – sie soll zunächst die Arbeitslast der freiwillig arbeitenden Korrektoren vermindern. Gleichzeitig versichert er, dass weiterhin an der Möglichkeit der anonymen Teilnahme an Wikipedia glaube und dass die meisten anonymen Beiträge qualitativ gut seien.

Eine Übernahme des Experiments in die deutschsprachige Wikipedia-Community steht im Augenblick nicht auf dem Plan. Hier baut man auf die Medienkompetenz der Nutzer. Wikimedia-Sprecherin Elisabeth Bauer sagt auf Anfrage: "Jeder, der Wikipedia nutzt, muss sich darüber im Klaren sein, dass die Inhalte im Fluss sind und ein Artikel möglicherweise inakkurat ist, bis jemand daherkommt und ihn korrigiert – das ist der Preis, der für eine freie Enzyklopädie zu zahlen ist."

Für die Zukunft kann Bauer Einschränkungen nicht ganz ausschließen: "Für Wikipedia war von Beginn an klar, dass die Erstellung und die Qualität der Enzyklopädie Vorrang vor allem anderen genießt. Das Wiki-Prinzip – die Tatsache, dass jeder Internetnutzer zum Projekt mit seinem Wissen beitragen kann, hat Wikipedia überhaupt erst möglich gemacht, ist aber als Mittel zum Zweck zu betrachten. Es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft andere Editionsprinzipien angewandt werden, um das Erreichte zu sichern." (Torsten Kleinz) / (jk)