EU-Parlament soll massive Überwachung der Telekommunikation verhindern

Wirtschafts- und Bürgerrechtsvertreter bestürmen die Abgeordneten, die monate- und jahrelange Aufzeichnung der elektronischen Nutzerspuren zu verhindern; Baden-Württemberg warnt vor der "Aufweichung" des Vorhabens.

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Im Streit um die EU-weite Aufzeichnung der elektronischen Spuren der Telekommunikationsnutzer wird der Ton schärfer. "Die Politiker werden an den Daten ersticken", erklärte Michael Rotert, Vorstandsvorsitzender des Vereins der deutschen Internetwirtschaft eco und Präsident des Brüsseler Dachverbands EuroISPA, gegenüber heise online. Der Staat werde nicht in der Lage sein, die täglich anfallenden, kaum vorstellbaren Mengen an gewünschten Rohinformationen tatsächlich für die Verbrechensbekämpfung zu nutzen. Zahlreiche Bürgerrechtsorganisationen haben derweil auf Anregung von Privacy International und der European Digital Rights-Initiative (EDRi) einen offenen Brief an das EU-Parlament geschickt. Darin warnen sie noch einmal, dass das Gesetzesvorhaben gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße, illegal sei und in bislang nie erreichtem Maße in die Privatsphäre der rund 450 Millionen EU-Bürger einschneiden würde.

Bei den Überwachungsplänen in Brüssel, die vom EU-Rat und der EU-Kommission mit Nachdruck vorangetrieben werden, geht es prinzipiell um die Speicherung der Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, SMS, E-Mailen, Surfen oder Filesharing anfallen. Mit Hilfe der Datenberge sollen Profile vom Kommunikationsverhalten und von den Bewegungen Verdächtiger erstellt werden. Gemäß einer Einigung im EU-Rat am vergangenen Freitag sollen die Mitgliedsstaaten Telcos verpflichten, die gewünschten Informationen inklusive IP-Adressen sechs bis 24 Monate vorzuhalten.

Die Spitzen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) sowie der Sozialdemokraten hatten den Kompromiss im Vorfeld größtenteils abgesegnet, obwohl sie zunächst im Innenausschuss Entschärfungen an der Richtlinie mitgetragen hatten. Differenzen gibt es nur noch um die Kostenerstattung, bei welcher der Rat den Mitgliedsstaaten freie Hand lassen will.

Das jüngste Papier des Rates soll den Parlamentariern im Plenum am 13. Dezember in Straßburg zur Abstimmung vorgelegt werden. Zuvor laufen die Lobbybemühungen aller Seiten auf Hochtouren. Führungspolitiker von EVP und Sozialisten wie der CDU-Mann Hans-Gert Poettering und der SPD-Vertreter Martin Schulz sehen jedoch keinen Gesprächsbedarf mehr: Anfragen zu Treffen mit der Providerwirtschaft wurden abschlägig beantwortet.

Dabei hält Rotert den Aufklärungsbedarf über die Folgen der im Raum stehenden massiven Ausweitung der TK-Überwachung für hoch. Neben den Verbindungsdaten beim Internetzugang oder bei Voice over IP sollen bei E-Mail auch die Adressfelder "To", "CC" und "BCC" gespeichert werden, erläutert der Providervertreter. Die Anbieter müssten damit "alle Daten doppelt und dreifach speichern und die Ermittler als erstes einmal alle Duplikate herausfiltern", verweist er auf praktische Probleme.

Allein bei den am Frankfurter Netzknoten DeCIX anfallenden Datenmengen rechnen die Internetzugangsanbieter damit, dass sie täglich 639.000 CDs oder in ausgedruckter Form 81 Millionen Aktenordner an den Staat weiterreichen müssten. Die Bundesregierung, welche die Einigung in Brüssel mit vorangetrieben hat, weiß laut Rotert noch nicht, "auf welches Spiel sie sich eingelassen hat". Nach der deutlichen Absage von Bundesinnnenminister Wolfgang Schäuble an eine Kostenerstattung rechnet Rotert ferner mit Auswirkungen auf die Wirtschaftssituation: "So mancher Provider wird bald mehr auf seine Preise aufschlagen müssen als die zusätzlichen drei Prozent Mehrwertsteuer." Mittelständische Unternehmer hätten das Nachsehen.

Schwere Bedenken gegen den Vorschlag des Rates hegen ferner der BDI, der VATM sowie der Bitkom. "Sachfragen dürfen nicht einem Machtspiel zwischen Parlament und Rat zum Opfer fallen", appelliert dessen Geschäftsführer Bernhard Rohleder an die Gesetzgeber. Viele technische Probleme seien nach wie vor ungeklärt. Die schwammigen Regelungen zur Speicherung von Anrufversuchen etwa sollten komplett gestrichen werden. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit hält der Branchenverbandsmanager für eine "ureigene Aufgabe des Staates" – nicht für eine Bürgerpflicht wie Schäuble. Die EU müsse den Mitgliedstaaten die Kostenübernahme vorschreiben, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Generell würde die Richtlinie den Verbänden zufolge mit ihren weit auseinander laufenden Speicherfristen und weiteren möglichen Abweichungen nach oben in "speziellen Fällen" das Ziel einer Harmonisierung des Binnenmarktes verfehlen.

Auch der Förderverein für eine Freie Informationelle Infrastruktur (FFII) hat sich in die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung eingeschaltet: "Die EU ist dabei, eine Richtlinie zu erlassen, die Ihre komplette Kommunikation verfolgbar macht", stellt der neu gewählte Präsident der Vereinigung, Pieter Hintjens, den Wählern vor Augen. "Dieses Gesetz lässt die alten sowjetischen Spionagestaaten wie Amateure aussehen." Ins Visier der Behörden kämen nicht Terroristen, sondern normale Bürger.

Der baden-württembergische Innenminister Herbert Rech stemmt sich derweil gegen Versuche, die Richtlinie "weiter aufzuweichen". Die Empfehlungen aus dem Innenausschuss sähen "erhebliche Einschränkungen vor" und würden "für die Antiterrorbemühungen auf EU-Ebene einen Rückschritt darstellen". Die Sorge vor einer "Totalüberwachung" hält Rech für unbegründet. Ein Zugriff auf die Daten durch staatliche Stellen erfolge nur "unter engen Voraussetzungen und im Bereich der Strafverfolgung grundsätzlich nur nach Anordnung durch den Richter". Gemäß dem aktuellen Ratspapier sollen Sicherheitsbehörden im Fall von "schweren Verbrechen" in den Datenbergen schürfen dürfen. Diese undeutliche Regelung könnte beispielsweise auch im Kampf gegen Raubkopierer greifen, insbesondere, wenn andere EU-Gesetzesvorhaben durchkommen.

Zur Auseinandersetzung um die Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, E-Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder Filesharing anfallen, siehe siehe den Artikel auf c't aktuell (mit Linkliste zu den wichtigsten Artikeln aus der Berichterstattung auf heise online):

(Stefan Krempl) / (jk)