Software bestraft Schwätzer

Das Online-Forum YourView will Diskussionen fundierter machen, indem es per Algorithmus die Glaubwürdigkeit der Teilnehmer bestimmt.

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Von
  • Ralf Grötker

Das Online-Forum YourView will Diskussionen fundierter machen, indem es per Algorithmus die Glaubwürdigkeit der Teilnehmer bestimmt.

Kennzeichnungspflicht für Nano-Produkte, unterirdische Speicherung von Kohlendioxid oder Stuttgart 21 – wenn Bürger im Internet aktuelle politische Themen diskutieren, geht es in den Foren oft drunter und drüber. Wer sich schnell eine Meinung bilden will, hat es schwer, denn – selbst wenn er die Polemik abzieht – welche Argumente sind wirklich fundiert? Die Anfang Mai gestartete Online-Diskussionsplattform "YourView Australia" bietet hierfür eine Lösung an. Ihr Gründer Tim van Gelder, Philosoph und Unternehmensberater, hat sich dabei vorgenommen, Status und Reputation für Online-Diskussionen neu zu definieren: Die Kommentare werden nicht chronologisch, sondern nach Glaubwürdigkeit sortiert. Das soll zum einen Nutzern helfen, fundierte Argumente zu erkennen. Zum anderen können Politiker, so jedenfalls hofft van Gelder, ein besseres Meinungsbild bekommen als durch klassische Umfragen.

Hehre Ziele – aber wie misst man Glaubwürdigkeit? Kann eine solche Gewichtung überhaupt gerecht sein? Tatsächlich werden Nutzer und Netzinhalte bereits von vielen Webdiensten bewertet und verglichen. Bisher allerdings setzen so gut wie alle Verfahren auf Popularität: Was am meisten verlinkt, weiterleitet, gelesen oder gemocht wurde, steht stets oben in den Rankings. Eine Ausnahme bilden personalisierte Suchangebote wie Amazons "Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch xyz" – hier geht es um die Schnittmenge von Vorlieben. Der US-Webdienst "Klout" bewertet anhand frei zugänglicher Informationen aus sozia-len Netzwerken den Online-Einfluss der Nutzer – und wird trotz zweifelhafter Aussagekraft herangezogen, zum Beispiel bei Jobvergaben.

YourView dagegen will die Glaubwürdigkeit seiner Nutzer messen: Um die vertrauenswürdigsten Beiträge zu ermitteln, werten Algorithmen, die im Hintergrund der Webseite laufen, das Verhalten der Teilnehmer aus und suchen darin nach sogenannten "Wissenstugenden". Diese spiegeln wider, was in der politischen Philosophie als Standard für gute Diskussionen gilt: Darunter fallen unter anderem Aufrichtigkeit, Offenheit für neue Ansichten, Informiertheit, und Unabhängigkeit. "Ein Indiz für Aufrichtigkeit ist etwa, ob jemand seine Beiträge mit richtigem Namen oder mit einem Pseudonym kennzeichnet", so van Gelder.

Jede Woche steht bei YourView ein neues aktuelles Thema zur Diskussion, bestehend aus einer kurzen Problembeschreibung, einer längeren Hintergrunderklärung und einer Auflistung der wichtigsten Argumente und Gegenargumente. "Offenheit macht sich zum Beispiel darin bemerkbar, wie jemand mit den Erklärstücken auf unserer Webseite umgeht", erläutert van Gelder, "ob er lange dort verweilt, zusätzlich Informationen anklickt und auch solche Kommentare positiv bewertet, die Bestandteil einer gegnerischen Argumentation sind."

Auf ähnliche Weise werden auch andere Tugenden ermittelt. Weitere Kriterien sind die Anzahl der Beiträge und Kommentare eines Teilnehmers sowie die Bewertungen, die er von anderen Nutzern erhalten hat. Genauere Details der Bewertungsalgorithmen will van Gelder allerdings nicht verraten, damit das System nicht ausgetrickst werden kann.

Das Verfahren soll im Laufe der Zeit optimiert und erweitert werden. Den Inhalt der Kommentare selbst will van Gelder aber – vorerst noch – nicht analysieren. Aus dem Verhalten eines Teilnehmers ergibt sich der individuelle Status. Je höher der Status, desto weiter oben auf der Liste erscheinen auch die Kommentare – und desto stärker wiegen auch seine Bewertungen von Beiträgen anderer Teilnehmer. Dies wiederum fließt in deren Statuskalkulation ein.

Damit nicht am Ende eine Clique von Hoch-Status-Diskutanten das Forum beherrscht und neue Teilnehmer gar keine Chance haben, gehört zu werden, ist die Gesamtzahl möglicher Statuspunkte begrenzt. Zudem lassen sich neueste oder populärste Beiträge zuoberst anzeigen.

Dass auf YourView nicht jede Stimme gleich viel zählt, hält van Gelder nicht für problematisch. Dafür könnten sich Nutzer über die Plattform eine "überlegte Meinung" bilden und – wenn das Projekt genug Fahrt gewinnt – Politiker sich ein besseres Bild davon machen, wie die Öffentlichkeit über bestimmte Themen denkt. "Die üblichen Umfragen liefern nur scheinbar ein authentisches Bild der öffentlichen Meinung", sagt van Gelder. Studien des US-Politikwissenschaftlers Ilya Somin geben ihm recht: Herkömmlich Befragte verfügen meist nicht über die relevanten Informationen. Stellt man sie ihnen zur Verfügung, fällt ihr Urteil oft anders aus als zuvor.

Bisherige Kommentatoren des Projektes haben sich erstaunlich wenig daran gestört, dass YourViews Bewertungskriterien für Glaubwürdigkeit nicht komplett transparent sind. Selbst Kritiker wie Tom Gordon vom Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme in Berlin üben sich im Sowohl-als-auch: "Dass der Algorithmus nicht 'Open Source' ist, sehe ich als deutlichen Nachteil. Andererseits würde eine Veröffentlichung des Codes das System manipulierbar machen." Unterm Strich liefe es auf die Frage hinaus, ob die Nutzer YourView vertrauen. Ob das so ist, muss sich erst noch zeigen. (bsc)