Die nächste Schlacht im Internet

Wenn sich, vor allem in den USA, die Auffassung durchsetzt, dass schon das Tracking selbst ein Gesetzesbruch ist, droht eine Flut von Klagen. Auf der Strecke bleiben könnten Innovationen für das Netz von morgen.

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Von
  • Antonio Regalado

Wenn sich, vor allem in den USA, die Auffassung durchsetzt, dass schon das Tracking selbst ein Gesetzesbruch ist, droht eine Flut von Klagen. Auf der Strecke bleiben könnten Innovationen für das Netz von morgen.

Neulich im Web: Auf meinem Bildschirm erscheint eine Amazon-Anzeige für ein Buch des Sciencefiction-Autors Cory Doctorow. „Was für ein Zufall!“ dachte ich – reichlich naiv. Kurz zuvor hatte ich einen Online-Kommentar von Doctorow über die Privatsphäre im Netz gelesen und anschließend nachgeschaut, was er in letzter Zeit so geschrieben hat. Und schon hatte ich einen Haufen Anzeigen am Hals, die mich verfolgten.

Wie das Internet uns miteinander verbindet, ist wohl die größte Business-Story unserer Zeit. Vernetzt zu sein, bedeutet: eine Identität zu haben. Früher war das eine Telefonnummer. Heute ist es die IP-Adresse des Rechners, mit dem man online ist. Oder es sind die Cookies, die Browser auf dem Rechner ablegen, um anderen Servern mitzuteilen, mit wem diese es zu tun haben. Der Haken daran: Jeder kann diese Informationen nutzen, um Sie und Ihr Online-Verhalten auszuspähen.

Die Mozilla-Stiftung startet deshalb vor einigen Wochen zusammen mit der britischen Zeitung Guardian ein Projekt, bei dem die Firefox-Zusatzanwendung Collusion dazu dient, offenzulegen, wer einem beim Surfen potenziell alles zuschaut. Mozilla-Corporation-Chef Gary Kovacs hatte zuvor selbst 150 solcher Spione gezählt, nachdem er Collusion einen Tag lang eingesetzt hatte. Auch seine neunjährige Tochter sei diesem Tracking ausgesetzt gewesen. Dahinter stecken Werbenetzwerke und Höker aller Art.

Nicht wenige, Kovacs eingeschlossen, finden diese weit verbreitete Datenschnüffelei unheimlich. Wann immer wir online gehen, hinterlassen wir eine Spur aus digitalen Krümeln. Das können die Daten von Geburtstagen sein, finanzielle Transaktionen, Angaben über den Familienstand – „wir bewegen uns gewissermaßen durch einen digitalen Wald“, sagt Kovacs. Wie Hänsel und Gretel, im Grimm’schen Märchen auf ihrem Weg durch den Wald Brotkrumen fallen ließen.

Was aber beunruhigt uns daran eigentlich? Natürlich werden Informationen im Zeitalter von Satellitenbildern, Google Street View und Data Mining immer feiner aufgelöst. Für sich zu bleiben, abgeschieden zu bleiben, wird immer schwerer. Die Privatsphäre, so scheint es, erodiert unaufhaltsam und unumkehrbar. Doch nun kommt Bewegung in die Sache: Die „Do not Track“-Technologie soll auf Wunsch des Nutzers penetrante Online-Anzeigen und spionierende Cookies aussperren – und US-Präsident Barack Obama persönlich hat der Technik seinen Segen gegeben.

Der Nutzer soll also wieder selbst entscheiden können, wer Online-Daten von ihm abgreifen darf. Was auf den ersten Blick vernünftig wirkt, könnte erhebliche Auswirkungen haben. Denn Online-Werbung ist ein Milliardengeschäft, das auch zahlreiche kostenlose Dienste finanziert (siehe Grafik). Microsoft will dennoch die nächste Ausgabe seines Browsers, den Internet Explorer 10, mit eingeschalteter „Do not track“-Funktion ausliefern - und so Vertrauen über Geschäft setzen.

Ausgaben für Online-Werbung in den USA, 2007 bis 2012

(Bild: eMarketer)

Bevor Sie sich nun freuen, sollten Sie sich aber doch einmal fragen, wieviel Schaden durch das kommerzielle Tracking eigentlich entsteht. Es ist nämlich alles andere als einfach, irgendjemanden zu finden, der durch die Erfassung seiner persönlichen Online-Daten zu Schaden gekommen ist. Viele Anwälte, die Privacy-Verletzungen angezeigt haben, können ein Lied davon singen: Aus Mangel an konkreten Schadensbeweisen haben Gerichte solche Anklagen immer wieder zurückgewiesen.

Das ändert sich gerade. Die Federal Trade Commission der USA, die sich um Verbraucherschutz und Monopolkontrolle kümmert, hat kürzlich klargestellt, dass etwaige Schäden nicht physischer oder wirtschaftlicher Natur sein müssen. Technische Verfahren, die „in unerwarteter Weise zuvor private Informationen“ – darunter etwa Einkaufsgewohnheiten – abgreifen, seien bereits als Verletzung der Privatsphäre zu werten.

Diese Wende könnte eine wahre Flut von Klagen nach sich ziehen. Facebook etwa ist bereits angeklagt, Gesetze zum Abhören von Telekommunikationseinrichtungen verletzt zu haben. Die Schadenssumme beläuft sich auf 15 Milliarden Dollar – genauso viel hat das soziale Netzwerk kürzlich mit seinem Börsengang gesammelt. Das Fachjournal National Law Review hat vorgerechnet, dass Google eine Strafe von 800 Milliarden Dollar drohen könnte, weil es die Privacy-Einstellungen von Apples Safari-Browser umgangen hat.

Die juristischen Schlachten, die sich hier abzeichnen, könnten dann auch sinnvolle Innovationen verhindern. Bei Facebook etwa forscht ein 12-köpfiges Team von Wissenschaftlern an dem größten Datensatz, der je über menschliches Verhalten erstellt worden ist. In dem könnte ein echter Schatz stecken – auch wenn derzeit noch niemand ahnt, was für einer.

Eine Innovation, die auf jeden Fall aus diesem Data Mining hervorgehen wird, sind maßgeschneiderte Anzeigen. Nur hört den Werbetreibenden in der gegenwärtigen Debatte kaum jemand zu. Dabei würden viele Verbraucher, je nachdem, wie man sie fragt, treffsicherere Anzeigen wohl begrüßen. Ich für meinen Teil werde mir jetzt das Doctorow-Buch kaufen. Vielen Dank für die Verknüpfung, Amazon. (nbo)