"Alle Wissenschaften haben einen gemeinsamen Ursprung"

Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn über die Frage, seit wann die Menschheit systematisch forscht.

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Von
  • Udo Flohr

Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn über die Frage, seit wann die Menschheit systematisch forscht.

Professor Jürgen Renn leitet das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und lehrt an der Freien Universität und der Humboldt-Universität.

Technology Review: Professor Renn, wie definieren Sie Wissenschaft?

Jürgen Renn: Als organisierte Produktion von Wissen, welches das Potenzial birgt, Probleme zu lösen und die dazu nötigen Handlungen gedanklich vorwegzunehmen. Wissenschaftliches Wissen ist überprüfbar, es lässt sich anhand gesellschaftlich akzeptierter Standards kontrollieren.

TR: Seit wann existiert Forschung in diesem Sinne?

Renn: Die Produktion von Wissen begleitet die menschliche Entwicklung seit den frühen Hochkulturen, insbesondere über Ackerbau, Verwaltung und Militär. Dabei entstanden Freiräume, vorhandene Methoden auch über den unmittelbaren Zweck hinaus auszuloten. So entstand etwa die babylonische Mathematik im Zusammenhang mit der Ausbildung von Verwaltungsfachleuten.

TR: Gibt es Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaften?

Renn: Alle Wissenschaften haben einen gemeinsamen Ursprung. Sie erzeugen kein unmittelbares Wissen über "die Natur" oder "den Geist", sondern über die Mittel, durch die wir auf die Natur oder auf Menschen einwirken. So entwickelten sich Philologie und Philosophie aus dem Nachdenken über Erkenntnismittel wie Sprache und Schrift; Arithmetik und Geometrie gehen auf Rechen- und Zeichenmittel wie Zirkel und Lineal zurück; und die Mechanik zum Beispiel auf Arbeitsmittel wie Hebel und Waage.

TR: Wie hat sich die Auffassung, was wissenschaftlich ist, im Laufe der Geschichte verändert?

Renn: Schon in den frühen Hochkulturen fing man an, astrono-mische Beobachtungen zu sammeln und miteinander abzugleichen. Aber erst im Zeitalter Galileis begannen zahlreiche Gelehrte, sich für zeitgenössische Technik und die Erfahrungen der Praktiker zu interessieren. Das führte zum Aufstieg der modernen Physik. Langfristig stellte sich heraus, dass so gewonnenes Wissen die ökonomische Grundlage der Gesellschaft verändert. Bei der industriellen Revolution wurde Wissenschaft dann immer mehr zu einer Produktivkraft.

TR: Hat sich die Rolle der Wissenschaftler währenddessen verändert?

Renn: Schon immer spielte das Urteil der Experten eine Schlüsselrolle. Aber es ist zum Beispiel durch das Zeitschriften- und Begutachtungswesen stärker formalisiert worden. Im Internet-Zeitalter ergeben sich neue Herausforderungen und Chancen, weil Behauptungen unmittelbar dem Urteil der weltweiten Expertengemeinde ausgesetzt sind.

TR: Wie passen Modelle und Theorien ins Bild, die sich nicht direkt beweisen lassen – zum Beispiel der Urknall?

Renn: Dass Modelle und Theorien eher spekulativ sind, ist ein weit verbreiteter Irrtum. Sie sind das Beste, was die Wissenschaft zu bieten hat, nämlich Versuche, auf Grundlage vieler Einzelinformationen ein möglichst getreues Abbild der Wirklichkeit zu schaffen. Modelle und Theorien sind meistens viel verlässlicher als solche Einzelinformationen, obwohl sie natürlich auch infrage gestellt werden können – wie alles wissenschaftlich fundierte Wissen. (bsc)