Schöne Aussichten dank Google

Augmented-Reality-Brillen sind dämliches Spielzeug für Computernerds, untauglich für den Massenmarkt - dachte TR-Autor Farhad Manjoo. Ein Besuch bei Google-Forscher Thad Starner hat ihn bekehrt.

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Von
  • Farhad Manjoo

Augmented-Reality-Brillen sind dämliches Spielzeug für Computernerds, untauglich für den Massenmarkt - dachte TR-Autor Farhad Manjoo. Ein Besuch bei Google-Forscher Thad Starner hat ihn bekehrt.

Auf den ersten Blick sieht Thad Starner wie ein typischer Google-Mitarbeiter aus. Ein großgewachsener, sympathischer Mann mit leicht strubbeligen Haaren, der im Forschungslabor Google X des Datenkonzerns an Technologien von morgen arbeitet. Doch dann bleibt der Blick an seiner Brille hängen: Über dem linken Glas ist ein seltsames Rechteck montiert, das an einen Autorückspiegel im Miniaturformat erinnert. Tatsächlich handelt es sich dabei um einen kleinen Computerbildschirm. Auf ihm erscheinen Starner Bilder, E-Mails und andere Grafiken.

Das Gerät, eine Eigenentwicklung von Starner, ist Teil des „Project Glass“, in dem Google an einer Augmented-Reality-Brille für den Alltag arbeitet. Augmented Reality (AR) steht für "erweiterte Realität": das Überlagern des Sichtfeldes mit digitalen Bildern. Das Projekt sei noch im Frühstadium, heißt es. Doch konnte man bereits Google-Mitarbeiter mit ähnlichen Terminator-artigen Gestellen in der Öffentlichkeit sehen. Vorerst darf niemand die Prototypen aus der Nähe begutachten, auch Journalisten will Google keine Demonstration gewähren.

Immerhin bekam ich schließlich eine Audienz bei Starner, der Koryphäe für Wearable Computing schlechthin. Seit den neunziger Jahren bewegt er sich mit diversen Prototypen wie ein Cyborg durch den Alltag. Selbst in Forschungskreisen betrachtete man ihn lange als Kauz, wenn er irgendwo mit riesigen Displays, die das Gesicht bedecken, und drei bis vier Kilogramm schweren Batteriepacks auftauchte. Auch ich hielt seine Arbeit für eine typische Nerd-Phantasie, und entsprechend skeptisch machte ich mich auf den Weg in sein Labor.

Als Starner dann den bunten Konferenzraum betritt, gerät meine Skepsis sofort ins Wanken. Während meine Aufmerksamkeit zwischen meinem iPad, einem Smart-Pen für Audioaufnahmen und meinem ständig summenden Smartphone mäandert, ist Starner die Ruhe in Person. Den Rechner zu seiner AR-Brille trägt er in einer Fahrradkurier-Tasche, in der linken Hand hält er eine Tastatur, die sich einhändig bedienen lässt. Laptop, Handcomputer und andere Gadgets des modernen digitalen Lifestyles hat Starner längst aufgegeben – und damit die Nervosität hinter sich gelassen, die der Gebrauch all dieser Geräte mit sich bringt.

Dieser Typ trägt seinen Computer immer bei sich und ist doch keine Sekunde geistesabwesend wie so viele, wenn sie an ihrem Smartphone herumfummeln. Eine echte Offenbarung für mich.

„Einer der Hauptpunkte unserer Arbeit ist, mobile Systeme zu entwickeln, mit denen man der realen Welt mehr Aufmerksamkeit schenken kann, anstatt von ihr abgelenkt zu werden“, sagt Starner. Als ich mich von Starner verabschiede, habe ich meine Meinung komplett geändert. Wenn Google es schafft, ein Gerät wie das von Starner herauszubringen, werden tragbare Computer die Welt erobern. Kein Zweifel: Lieber einen Rechner am Körper tragen, als dauernd mit umständlichen und immer noch zu langsam reagierenden Geräten zu hantieren.

Das mag im Moment wenig plausibel klingen. Als Google vor kurzem das Project Glass vorstellte, hielten die meisten das Konzept für nicht massentauglich. Doch noch vor wenigen Jahren hätten wir auch den routinierten Gebrauch von Bluetooth-Handsets, Schlafsensoren und anderen tragbaren Gadgets als überzogen abgetan. Heute haben sich viele Menschen bereits an sie gewöhnt. Und das Smartphone, auch wenn es kein tragbarer Computer im strengen Sinne ist, entfaltet seinen Nutzen durch die ständige Verfügbarkeit am Körper.

Am Ende könnten tragbare Computer einfach Ausdruck von Modebewusstsein sein. Historisch werden sie sich dann in Brillen, Monokel und Armbanduhren einreihen. „Wir tragen heute viele Dinge aus rein dekorativen Gründen“, sagt Travis Bogard von Jawbone, einem Hersteller für modische Bluetooth-Headsets. „Wir betrachten sie als ‚funktionalen Schmuck’.“ Der Trick sei, Schmuckgegenstände mit nützlichen Funktionen zu versehen, ohne ihren ästhetischen Reiz zu schmälern.

Vor 20 Jahren wäre dies noch nicht möglich gewesen. Die Technik, die Starner ein Cyborg-Leben ermöglicht, war lächerlich klobig. Seit er zum ersten Mal eine AR-Brille getragen habe, sei die Technologie demselben Entwicklungsweg gefolgt wie alle anderen Digitaltechnologien, sagt Starner. Sie wurde kleiner, leistungsfähiger und vor allem immer verführerischer.

„1993 wurde ich immer gefragt, was man denn von einem mobilen Computer habe“, erzählt Starner. Auch als Apple den Newton herausbrachte, hätten die Leute noch den Nutzen eines solchen Taschencomputers bezweifelt. Mit dem Palm Pilot, den MP3-Playern und schließlich den Smartphones habe sich die Haltung geändert. Plötzlich habe es geheißen: „Hey, das ist echt praktisch.“

Starners heutige AR-Brille ist genauso klein wie ein Bluetooth-Headset. Ingenieure arbeiten daran, die Displays noch weiter zu verkleinern, sie gar direkt in Brillengläser und Kontaktlinsen einzublenden.

Das größte Hindernis ist derzeit noch das Eingabegerät. Die Tastatur, die Starner ganz nebenbei bedient, dürfte eine für viele abschreckende Lernkurve haben. Die Vorstellung, ein Trackpad in der Tasche haben zu müssen, kommt manch einem gar unheimlich vor. Das beste Eingabegerät könnte am Ende die eigene Stimme sein. Die heutige Sprachsteuerungstechnologie ist dafür noch nicht weit genug.

Allmählich komme das Wearable Computing aber näher, sagt Starner. „Die Geräte verbrauchen nicht mehr so viel Strom, die Netze sind gut genug, und die Preise sind so weit gefallen, dass die Brillen inzwischen die Phantasie der Menschen anregen“, so Starner. Sein Display koste zwar noch 3000 Dollar. Er glaube aber, dass die Technik schon bald in den Alltag einziehe.

Google hat die Vision des Project Glass im April in einem Video vorgestellt. Sofort monierten Kritiker, mit der Technologie könnten sich Menschen in einem digitalen Kokon verlieren. Für Starner verhält es sich genau umgekehrt: AR-Brillen schärften die Aufmerksamkeit für echte soziale Interaktion. Die Bilder, die im Display über den Anblick der Umwelt gelegt würden – etwa Wegbeschreibungen – würden nicht als Ablenkung wirken, meint Starner.

AR-Brillen werden vor allem alltägliche Aufgaben erledigen, für die wir heute Smartphones benutzen: eine Verabredung im Kalender nachschlagen, die Shazam-App starten, um ein Musikstück in einer Kneipe zu erkennen, SMS abrufen. Da könnte man natürlich fragen: warum nicht beim Smartphone bleiben?

Die Antwort lautet: Geschwindigkeit und Unsichtbarkeit. Stellen Sie sich vor, Sie treffen Ihren Chef im Foyer. Er fragt Sie nach den Verkaufszahlen der zurückliegenden Woche, die Sie dummerweise noch nicht gecheckt haben. Ein Griff zum Smartphone wäre verräterisch. Mit einer AR-Brille hingegen könnten Sie die Situation elegant meistern und einfach die Zahlenkolonnen auf ihr Display rufen.

In Starners eigenem Labor am Georgia Institute of Technology arbeiten Ingenieure bereits an einem „dual-purpose speech“-System für derartige Situationen. Sie entwickeln eine Spracherkennung, die aus einem scheinbar normalen Gespräch unauffällig Anweisungen herausfiltern kann. Würden Sie in der fiktiven Begegnung mit Ihrem Vorgesetzten entgegnen: „Die Verkaufszahlen dieser Woche?“, würde dieser die Worte als Gesprächseinleitung Ihrerseits auffassen, während die Maschine sie als Anweisung interpretiert und sofort die Zahlen bereitstellt.

Nun könnte man einwenden, dass AR-Brillen ganz neue Probleme aufwerfen. Woher soll man wissen, dass eine Person, die sie trägt, nicht die gesamte Begegnung auf der Straße, im Café aufzeichnet? Könnte die Technik nicht dazu führen, dass Mitarbeiter in einem Meeting heimlich Youtube-Videos schauen, weil ihnen langweilig ist? Starner lässt diese Einwände nicht gelten. Diese Probleme gebe es längst auch heute. Das Smartphone kann unbemerkt Gespräche mitschneiden, und auf dem iPad kann man Videos schauen, während man so tut, als ob man Excel-Tabellen nachschlage.

Starner ist überzeugt, dass sich für AR-Brillen ebenso eine soziale Etiquette herausbilden wird wie für alle anderen neuen Technologien. Vielleicht muss man die Hand an den Rahmen halten, um mit der Brille ein Foto zu machen, oder es leuchtet ein Lämpchen am Display auf, wenn Audio- und Videoaufnahmen laufen. Wenn der erste Kulturschock erst einmal verdaut ist, könnten AR-Brillen so manche Ärgernisse überwinden, die andere Gadgets mit sich gebracht haben.

Während meines einstündigen Gesprächs mit Starner holte er sich immer wieder Texte in sein Display oder führte Websuchen durch – ohne dass ich mich davon gestört gefühlt hätte. Für einen Beobachter dürfte Starner sehr viel konzentrierter gewirkt haben als ich. „Eine der coolsten Aspekte daran ist, dass mein Sozialverhalten cleverer wird“, findet Starner.

Ich konnte das selbst erleben, als ich Starners Brille selbst ausprobierte. Nach einigen Sekunden hatte sich mein Auge auf das Display eingestellt, und dann konnte ich mich ganz normal im Raum umsehen, während im seitlichen Blickfeld ein kleiner Monitor auftauchte. Auf dem nahm ich plötzlich Text wahr: Ein PR-Verantwortlicher von Google hatte Starner Anweisungen gegeben, was er während des Interviews nicht sagen sollte. Da stand zum Beispiel: „Versuchen Sie das Gespräch von den technischen Spezifikationen des Project Glass wegzulenken.“ Während wir uns unterhielten, wurde Starner also die ganze Zeit von einem PR-Mann durch das Gespräch geführt. Aber soll ich Ihnen was sagen? Starner hat mich restlos überzeugt.

Farhad Manjoo ist Kolumnist des Online-Magazins Slate und schreibt u.a. für Fast Company und die New York Times. Er ist Autor des Buches "True Enough: Learning to Live in a Post-Fact Society." (nbo)