Simulieren geht über Probieren

Digitale Designprogramme sind ein unverzichtbares Werkzeug für Ingenieure aller Branchen. Die virtuellen Entwicklungslabore sparen Zeit, minimieren Fehler und erlauben, auf den Bau kostspieliger Prototypen zu verzichten.

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Von
  • Denis Dilba
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Digitale Designprogramme sind ein unverzichtbares Werkzeug für Ingenieure aller Branchen. Die virtuellen Entwicklungslabore sparen Zeit, minimieren Fehler und erlauben, auf den Bau kostspieliger Prototypen zu verzichten.

Kann man in nur 15 Monaten ein völlig neues Auto entwickeln? Bis zur letztjährigen Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) hätten wohl die meisten Experten auf diese Frage hin den Kopf geschüttelt. Dann allerdings präsentierte Achim Kampker seinen Streetscooter: ein kleines Elektroauto, bei dem die teure Batterie angemietet werden soll, optimiert für die Kurzstrecke, in der Basisversion nicht mit Komfort-Kinkerlitzchen wie Radio oder CD-Player ausgestattet und daher bereits zu einem Kampfeinstiegspreis von rund 5000 Euro zu haben. Von der Idee bis zum fertigen Prototyp – gebaut in 15 Monaten. Zum Vergleich: Die Entwicklungszeiten üblicher Fahrzeuge liegen aktuell bei mindestens zwei Jahren, meist belaufen sie sich auf drei bis vier Jahre. Und das auch nur dann, wenn die Automobilbauer auf umfangreiche Erfahrungen mit einem Vorgängermodell und seine digitalen Bauteildaten zurückgreifen können.

Wie also ist solch eine Beschleunigung möglich? "Durch Teamwork, eine reduzierte Modulbauweise und den konsequenten Einsatz digitaler Konstruktionswerkzeuge", sagt Achim Kampker, Geschäftsführer der Streetscooter GmbH und Leiter des Lehrstuhls für Produktionsmanagement im Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen. Dreh- und Angelpunkt für die Konstruktionsarbeiten an dem kleinen Stromer ist, wie heutzutage im Prinzip überall im Maschinenbau üblich, eine Software für "Computer Aided Design", kurz: CAD.

Das Streetscooter-Konsortium, rund 80 auf die verschiedensten Bereiche spezialisierte mittelständische Automobilzulieferer, setzte auf die aktuelle CAD-Software Creo des US-Herstellers Parametric Technology Corporation (PTC). Die Vorteile des Systems zeigen sich vor allem, wenn die Nutzer beginnen, die bereits heute in der Software einprogrammierten Möglichkeiten zur verteilten Zusammenarbeit umfassend auszuschöpfen. Denn anders als sonst in der Autoindustrie üblich arbeiten die Streetscooter-Partnerfirmen weitgehend autonom an dem Projekt. Das PTC-System ist ein gutes Beispiel dafür, dass es bei CAD-Software nicht nur darauf ankommt, immer mehr neue Funktionen zur Verfügung zu haben; in dieser Hinsicht gelten die Programme als weitgehend ausgereizt.

Noch radikaler als die Streetscooter-Partner ging das US-Unternehmen Local Motors vor. Sein "Rally Fighter", eine Mischung aus Coupé und Geländewagen, gilt als das erste echte Open-Source-Automobil. Es wurde von einer 25.000 Mitglieder starken Internetgemeinde aus 122 Ländern entwickelt. Um die CAD-Konstruktionsdateien auszutauschen, zu diskutieren und in einer für alle zugänglichen Datenbank abzuspeichern, stellte die Firma ihren über den Erdball verstreuten Konstrukteuren eine Webplattform bereit. In nur 18 Monaten entstand so aus einer einfachen ersten Skizze das fertige Fahrzeug.

Um die Zusammenarbeit im Netz noch weiter zu vereinfachen und bisherige Kompatibilitätsprobleme zu minimieren, bietet Local Motors seit Anfang des Jahres eine Einstiegsversion des CAD-Programms Solid Edge von Anbieter Siemens PLM für 20 Dollar im Monatsabonnement an. Die habe zwar nicht den vollen Umfang eines CAD-Profiprogramms mit Abopreisen von 200 und mehr Dollar pro Einzellizenz, sagt Ariel Ferreira, Pressesprecherin von Local Motors, sei aber ein guter Einstieg, um bei Local Motors mitzumachen. "Wir werden bei neuen Projekten darauf achten, dass möglichst viele Entwicklungsaufgaben auch mit der Einstiegsversion machbar sind."

Für eine reibungslose Zusammenarbeit des Streetscooter-Teams sorgt ein sogenanntes Produktlebenszyklus-Managementsystem (PLM), das in die CAD-Software integriert ist. Wie auf der Webplattform von Local Motors werden im PLM-System die unabhängig voneinander entworfenen Baugruppen, zum Beispiel die Karosseriestruktur oder der Antriebsstrang, koordiniert zusammengeführt, gespeichert und verwaltet. So können die Entwickler die Eigenschaften und den Lebensweg jedes noch so kleinen Bauteils lückenlos erfassen, vom ersten Konzept bis zur Verschrottung des Fahrzeugs.

Alle diese Informationen sind mit den CAD-Konstruktionszeichnungen des Fahrzeugs verknüpft. Jede Änderung in den Bauplänen, jede digitale Notiz und jeder Prüfbericht wird mithin zentral abgespeichert und allen Projektmitarbeitern zugänglich gemacht. Verschlampte Dokumente oder schlechte Absprachen zwischen Arbeitsgruppen sollen damit der Vergangenheit angehören – ebenso Fehlentwicklungen, die zu horrenden Mehrkosten führen können.

Neu sind weder die PLM-Systeme selbst noch die Integrationsfunktion der CAD-Programme. Doch waren diese Lösungen bis vor Kurzem nur unter den Großen der Branche verbreitet. Nun zeigt sich, dass gerade kleinere Label mit neuen, kreativen Produktionskonzepten für Kleinserien von der nahezu grenzenlosen Integrationsfähigkeit der aktuellen Software profitieren können: "Wir konnten die Fahrzeugkomponenten-Modelle bereits in einem frühen Entwicklungsstadium aufeinander abstimmen", so Kampker. Dabei habe man etwa geprüft, ob es unzulässige Bauteilkollisionen gibt: beispielsweise ob der vorgesehene Elektromotor auch exakt in den Bauraum der Karosserie passt.

"Neben der umfangreichen Funktionalität des CAD-Programms war vor allem der schnelle und reibungslose Informations- und Datenaustausch projektentscheidend, sonst wäre die Entwicklung mit so vielen Teammitgliedern und in dieser kurzen Zeit einfach nicht möglich gewesen", sagt Kampker. Im virtuellen Entwicklungsraum können die Konstrukteure in Echtzeit auf ihren Bildschirmen verfolgen, wie ein anderer eine Änderung an einem Bauteil vornimmt. In dieser Zeit sperrt das CAD-Programm alle übrigen Teammitglieder automatisch, damit nicht mehrere Mitarbeiter parallel am gleichen Teil verschiedene Änderungen vornehmen. Eine große Vereinfachung, wie Kampker betont: "Wenn viele Leute an einem Thema arbeiten, muss ich die Kollegen ständig auf dem Laufenden halten, was ich gerade mache und was meine nächsten Schritte sind." Das ginge theoretisch natürlich auch mit ständigen Meetings, Telefonaten und Versions-Updates – aber abgesehen vom Aufwand komme man dabei auch irgendwann durcheinander. "Dank der unkomplizierten Vernetzung konnten und können wir während der Entwicklung von Streetscooter eine Fülle von alternativen Bauweisen und Ideen überprüfen, ohne jedes Mal einen teuren Prototypen aufbauen zu müssen", so der Ingenieur. "Das spart Kosten und Zeit, minimiert Fehler und steigert die Qualität."

Aus diesen Gründen sind CAD-Programme heute unverzichtbare Werkzeuge für Konstrukteure fast aller Technologie-branchen geworden – ob nun ein Toaster oder ein Flugzeug gebaut werden soll. Seitdem die professionellen Zeichenprogramme vor rund 25 Jahren großflächig Reißbrett und Tusche ablösten, hat sich allerdings viel getan: Kam die CAD-Software anfangs noch mit simpler 2D-Darstellung daher, trumpfen aktuelle Versionen mit üppiger 3D-Grafik und animierten Videos oder Explosionszeichnungen der Bauteile auf, gleichzeitig bieten sie stetig mehr Funktionen, die weit über das eigentliche Konstruieren hinausgehen. "Simulationen des digitalen CAD-Prototypen sind bei uns bereits seit einigen Jahren Standard", sagt Michael Sauter, Country Manager Zentraleuropa beim amerikanischen Software-Hersteller PTC.