"Man kann sie nicht messen."

Wetterexperte Gerhard MĂĽller-Westermeier ĂĽber die Frage, was "gefĂĽhlte Temperatur" eigentlich bedeutet.

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Von
  • Udo Flohr

Wetterexperte Gerhard MĂĽller-Westermeier ĂĽber die Frage, was "gefĂĽhlte Temperatur" eigentlich bedeutet.

Müller-Westermeier leitet beim Deutschen Wetterdienst (DWD) den Bereich Nationale Klimaüberwachung und ist für den jährlich erscheinen-den "Klima-Report" des DWD verantwortlich.

Technology Review: Herr MĂĽller-Westermeier, in Wetterberichten ist oft von einer "gefĂĽhlten Temperatur" die Rede. Reichen objektiv gemessene Gradangaben nicht aus?

Gerhard Müller-Westermeier: Wir alle wissen, dass unser Temperaturempfinden auch vom Wind und der Luftfeuchtigkeit abhängt – und davon, ob es gerade regnet oder wir in der Sonne sitzen. Die Abweichung dieser "gefühlten" von der Thermometertemperatur kann viele Grad Celsius betragen.

TR: Wie ermittelt man denn die gefĂĽhlte Temperatur?

MĂĽller-Westermeier: Man kann sie nicht messen. Wir berechnen sie mit hohem Aufwand ĂĽber eine Simulation, und zwar mit dem Klima-Michel-Modell.

TR: Was, um alles in der Welt, ist ein Klima-Michel?

Müller-Westermeier: Ein virtueller Durchschnittstyp, 35 Jahre alt, 1,75 Meter groß und 75 Kilo schwer. Er wandert mit vier Stundenkilometern über eine Ebene, produziert dabei Wärme und passt sich dem Wetter über seine Kleidung an. Eingangsgrößen für die Berechnung sind unter anderem Lufttemperatur, Luftfeuchte, Windgeschwindigkeit, die Strahlung der Sonne je nach Tages- und Jahreszeit sowie die durchschnittliche direkte Umgebung, zum Beispiel "lockere Bebauung".

TR: Und je stärker der Wind, desto kälter?

Müller-Westermeier: Ja, Skifahrer wissen das: Insbesondere bei heftigem Wind und trübem Wetter empfinden wir die Luft nicht nur als deutlich kälter, es kommt auch leichter zu Erfrierungen der Haut. Allerdings nimmt der Effekt mit steigender Tempe-ratur ab; oberhalb von sieben Grad ist die gefühlte kaum noch niedriger als die reale Temperatur.

TR: Und bei Windstille, blauem Himmel und Sonne kommt es uns wärmer vor, als es tatsächlich ist?

Müller-Westermeier: Genau. Außerdem erschwert hohe Luftfeuchte auch die Abkühlung durch Verdunstung. In unserem Modell können alle relevanten Größen berücksichtigt werden. Dazu gehört auch, wie stark unsere Umgebung die Sonne reflektiert – sind das helle Hauswände, wird uns zum Beispiel gleich wärmer.

TR: Man sagt doch, Frauen frieren schneller. Reicht es denn, nur einen Mann zu simulieren?

Müller-Westermeier: Das stimmt tatsächlich, ist aber eigentlich kein Problem, denn wer schnell friert, zieht generell ja auch etwas dickere Kleidung an – davon geht zumindest das Modell aus.

TR: Gibt es auch andere Modelle zur gefĂĽhlten Temperatur?

Müller-Westermeier: Das amerikanische Militär versuchte bereits vor Jahrzehnten, mit Vorhersagen der "Wind-Chill-Temperatur" seine Soldaten vor Auskühlung und Erfrierungen zu bewahren. Das war allerdings ein recht einfaches Modell und ausschließlich für Kälte definiert. Unser Klima-Michel-Modell deckt einen weiteren Bereich ab: Es funktioniert auch bei Schwüle und Wärme im Sommer.

TR: Kann man den Klima-Michel auch jenseits von Wettervorhersagen und Hitzewarnungen nutzen?

Müller-Westermeier: Ja, man kann bestimmte Parameter weglassen oder andere hinzunehmen. So liefert das Modell auch bei bioklimatologischen Bewertungen von Gebäuden, in Straßen, bei Stadtklima-Untersuchungen, in der Umweltepidemiologie und in der Klimawirkungsforschung wichtige Ergebnisse. (bsc)