Schlangenöl im Browser

Das W3C tut so, als könne es die Privatsphäre der Web-Nutzer schützen, ohne den Datensammlern zu schaden. Microsoft torpediert den geplanten Standard, und das ist gut so.

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Von
  • Christian Kirsch

Snake Oil hießen die Wundermittel reisender Barbiere im Wilden Westen. In diese Quacksalber-Tradition stellt sich nun das W3C. Außer mit der Weiterentwicklung von Webstandards beschäftigt sich das Komitee seit Längerem auch mit dem Schutz der Privatsphäre.

Eine seiner Arbeitsgruppen widmet sich deshalb dem von Mozilla vorgeschlagenen sogenannten „Do not Track“-Header, kurz DNT. Diese Webvariante von Schlangenöl entspringt ähnlichen Gedankengängen wie die freiwillige Selbstverpflichtung von Unternehmen bezüglich einer Frauenquote: Alle wissen, dass etwas passieren muss – aber das täte ja irgendjemandem weh. Also tut man nichts, sondern tut so, als ob man etwas täte.

DNT nun ist so etwas wie die freiwillige Frauenquote für das Tracking. Denn Werbetreibende im Internet möchten gerne wissen, was die Besucher von Webseiten vorher gesehen oder wonach sie gesucht haben, auf welche Links sie klicken, kurz: Sie möchten ihr Verhalten „tracken“. Je mehr Werber wissen, desto wirksamer können sie ihre Botschaften platzieren, das ist der Gedanke dahinter.

Viele Anwender wollen nicht, dass die Produzenten bunter Bilder und seichter Töne sie verfolgen. Auch einigen Politikern missfällt das und sie denken über Gesetze nach. Gäbe es die, wäre eine profitable rechtliche Grauzone beseitigt. Da sei der DNT vor: Der Header signalisiert Werbetreibenden, ob ein Anwender Wert auf Tracking legt oder es kategorisch ablehnt. Den Wunsch respektieren muss niemand. So weit, so klar, das Konzept der binären Logik ist ITlern geläufig.

Dem W3C ist es aber zu langweilig. Es verlangt einen dritten Zustand, in dem der Browser gar keinen DNT schickt. Dieser „Dritte Weg“ soll der Default sein, denn über den Versand des DNT dürfe nur der Benutzer selbst entscheiden. Microsoft, getreu seinem früheren Ruf des Standardverächters, setzt sich darüber hinweg und liefert seinen Internet Explorer 10 mit aktiviertem DNT aus. Anwender können ihn abschalten.

Nun schlagen die Wogen hoch: Ein Patch für den freien Webserver Apache, ausgerechnet vom Autor des DNT-Standards, stellt sicher, dass er vom IE10 gesendete DNTs ignoriert. Denn jemand, der sich dreist über einen (noch nicht einmal beschlossenen!) Standard hinwegsetzt, gehöre bestraft; niemand dürfe den Benutzer bevormunden.

Höchstens das W3C. Denn seine ominöse Voreinstellung entspricht nur dem Status quo – jeder trackt nach Lust und Laune, der Benutzer schweigt ja. Halblaut verraten die Microsoft-Kritiker das wahre Motiv für den obskuren dritten Zustand: Wenn der Marktführer IE den DNT per Default einschaltet, würden die Werbetreibenden ihn schlicht ignorieren. Übersetzt heißt das: Der DNT hat nur Sinn, wenn ihn möglichst wenige benutzen. Ein IT-Placebo also.

Auch wenn es nicht in das Weltbild vieler ITler passt: Microsoft tut in diesem Fall das einzig Richtige, indem es die Privatsphäre seiner Kunden schützt. Übrigens nicht nur durch den DNT, sondern auch durch eine eigene Technik, die nicht auf die Kooperation der Gegenseite angewiesen ist. Die konfigurierbaren „Tracking Protection Lists“ des IE stellen nämlich sicher, dass der Browser selbst das Tracking verhindert, indem er bestimmte Inhalte gar nicht erst lädt.

Es geht den Redmondern dabei nicht in erster Linie um ihre Kunden. Ihr Geschäftsmodell ist noch nicht parasitär wie das des großen Konkurrenten Google, von dem auch Mozilla finanziell abhängt, sie sind nicht auf Werbeeinnahmen angewiesen. Folglich leiden sie nicht, wenn die Werber leiden.

Wie auch immer der DNT-Streit ausgeht, für rein werbefinanzierte Internet-Angebote dürfte die Luft in Zukunft dünner werden. Wenn die Industrie selbst keine effektive Tracking-Kontrolle schafft, werden Politik und Rechtsprechung das (hoffentlich) erledigen.

Alle Links: www.ix.de/ix1210003 (ck)