"Für die Balancesteuerung reichte eine einzige Zeile Code"

Der Maschinenbauer und Mathematiker Arend L. Schwab über die Frage, warum Fahrräder nicht umfallen – und wie sich dieser wundersame Effekt nachbauen lässt.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 13 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Udo Flohr

Der Maschinenbauer und Mathematiker Arend L. Schwab über die Frage, warum Fahrräder nicht umfallen – und wie sich dieser wundersame Effekt nachbauen lässt.

Schwab lehrt Angewandte Mechanik am Institut für Maschinenbau der TU Delft.

Technology Review: Herr Professor Schwab, ist die Frage, was ein Fahrrad aufrecht hält, nicht längst geklärt?

Arend L. Schwab: Nein. Bereits 1910 wurde zwar die Kreiselstabilität des Vorderrades als entscheidender Faktor postuliert. Doch das lässt sich widerlegen, indem man ein Bike ohne Kreiseleffekt baut.

TR: Wie das?

Schwab: Zum Beispiel indem man Kufen statt Räder montiert. Wir haben das tatsächlich auf Eis ausprobiert, aber es ist unpraktisch. Besser geht es mit kleinen, übereinander angebrachten Rädern, die sich gegenläufig drehen und so den Kreiseleffekt aufheben – und das Fahrrad fährt immer noch. Also nahm man lange Zeit an, die wahre Ursache sei der Nachlauf.

TR: Der Nachlauf?

Schwab: Wenn Sie bei einem normalen Fahrrad die Steuerachse gedacht nach unten verlängern, trifft sie vor dem Auflagepunkt des Vorderrads auf die Straße. Der Abstand zwischen den beiden Punkten ist der Nachlauf.

TR: Und der Nachlauf verhindert, dass ein Radler umkippt?

Schwab: Nein. Wir haben ein Experimental-Rad gebaut, bei dem es weder Nachlauf noch Kreiseleffekte gibt. Trotzdem fährt es stabil.

TR: Was also ist die richtige Antwort?

Schwab: Der Fahrer steuert immer zu der Seite, in die das Rad zu kippen droht. Der Auflagepunkt, an dem die Reifen die Straße berühren, gelangt dadurch wieder unter den Massenschwerpunkt. Wenn man einen Besen auf der Handfläche balanciert, muss man die Hand – den Kontaktpunkt – ja auch in die Richtung bewegen, in die der Besen kippt.

TR: Wird Ihre Forschung das Fahrrad verändern?

Schwab: Das Fahrrad ist eine perfekte, in hundert Jahren gereifte Konstruktion. Spezielle Bauweisen, etwa Klappräder, können dennoch von einem Umdenken profitieren. Bisher wurde deren Geometrie meist von Standardrädern übernommen – 72 Grad Lenkwinkel, acht Zentimeter Nachlauf und so weiter. Aber vielleicht würde sich ein davon abweichender Entwurf ja besser fahren? Letztlich erweitert unsere Arbeit generell den Spielraum für neue Konstruktionen. Einem Liegeradhersteller konnten wir schon helfen.

TR: Wird es künftig eine Art Autopilot geben, der Stürze bei Fahrrädern oder Motorrädern verhindert?

Schwab: Ja. Das ist sogar relativ einfach, weil wir nun den Mechanismus kennen. Wir haben sogar schon ein Rad gebaut, das ohne Fahrer fährt.

TR: Wie funktioniert das?

Schwab: Wir haben durch einen langen Ausleger schräg nach vorn die Massenschwerpunkte von Rahmen und Lenkung so austariert, dass dieses Rad von selbst in die Richtung lenkt, in die es zu kippen droht. Und einer unserer Studenten hat aus Lego ein kleines selbstfahrendes Motorrad mit einem Sensor und zwei Elektromotoren gebaut – einer für den Antrieb, einer für die Lenkung. Zur Programmierung der Balancesteuerung reichte eine einzige Zeile Code. (bsc)