Kommentar: Mutig, mutig, Microsoft

Microsoft krempelt sein Betriebssystem um und will damit noch auf den Tablet-Zug aufspringen, bevor der ganz abgefahren ist. Die Strategie ist nicht ohne Risiko. Doch Redmond beweist Mut. Zu Recht: In der neuen Windows-Welt steckt Potenzial.

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Microsoft meint es ernst. Die weltweite Markteinführung von Windows 8 und seinem Smartphone-Pendant ist eines der wichtigsten Daten in der Unternehmensgeschichte. Wie viel am Erfolg des neuen Systems hängt, zeigt auch der Aufwand, den Microsoft für die Markteinführung betreibt. Es geht um nicht weniger, als die Marktführerschaft auch nach dem Paradigmenwechsel in der PC-Branche zu behaupten. Der Trend geht zum Tablet, die kleinen Touch-Geräte nagen an den Marktanteilen der klassischen PC-Hersteller – und damit an der Haupteinnahmequelle von Microsoft.

Microsofts Problem: Auf dem Tablet spielt Windows bisher trotz einiger Versuche keine Rolle – und das, obwohl Bill Gates die Bedeutung dieses Formfaktors schon früh erkannt hatte. Es war Apple, das mit dem iPad das erste markttaugliche Gerät herausgebracht hat. Das war im Januar 2010, ist also noch gar nicht so lang her. 100 Millionen iPads hat Apple seither verkauft. Dazu kommen noch andere Hersteller wie Samsung und Amazon. Das ist ein immer schneller fahrender Zug, auf den Microsoft jetzt noch aufspringen will.

Dafür braucht man Mut, und den beweisen die Microsofties. "Wir haben Windows völlig neu erfunden", sagt Steve Ballmer. Der größte Schritt ist der auf die ARM-Plattform. Damit steht Windows eine ganz neue Geräteklasse offen. Die Hardware-Branche freut sich über mehr Wahlmöglichkeiten, sie ist nicht mehr nur auf Googles Android angewiesen. Mit den unter eigener Flagge herausgebrachten Surface-Tablets zeigt Microsoft, wo die Reise hingehen soll.

Dazu kommt die engere Anbindung des Mobilbetriebssystems Windows Phone, das sich den Kernel mit dem "großen" Windows teilt und so zu einer weiteren Säule der neuen Strategie wird. Auch wenn die Kurve deutlich nach oben zeigt, ist Windows Phone noch längst nicht da, wo Ballmer und Windows-Phone-Chef Joe Belfiore es gerne hätten. Der harte Versionssprung, der Windows Phone 7 gnadenlos zum alten Eisen sortiert, dürfte sich allerdings nicht nur für Partner Nokia als heftiger Dämpfer erweisen.

Die Strategie ist auch nicht ohne Risiko. Mit der konsequenten Touch-Ausrichtung auch der Desktopvariante bricht Microsoft mit auf dem PC lange gepflegten Traditionen und geht das Risiko ein, viele Nutzer erst einmal zu vergrätzen. Kein Start-Button! OMG! Erinnert sich noch jemand an die Einführung von XP mit der bunten Luna-Oberfläche? Manchmal muss man eben mit dem Gewohnten brechen, um vorwärts zu kommen.

Die Nutzer müssen sich auf das Neue auch einlassen. Sie dürfen erwarten, dass Microsoft diesen wichtigen Meilenstein nicht mutwillig vergeigt. Denn wenn Redmond eins hat, dann ist das Kompetenz bei Betriebssystemen. Doch wer erwartet, das alles so ist wie immer, wird mit Sicherheit enttäuscht – und kann weiter Windows 7 einsetzen.

Wenn Microsoft dann noch die Kinderkrankheiten von Windows Phone behebt und der App-Markt tatsächlich von Desktop-Entwicklern belebt wird, hat die schöne neue Windows-Welt einiges Potenzial. Zumal Microsoft mit seinem neuen Musikangebot Xbox Music plattformübergreifend all das bietet, was man sich sonst bei verschiedenen Konkurrenten zusammenkaufen muss.

Und noch etwas spricht dafür, dass Microsoft eine echte Chance hat: Die Konkurrenz ist auch nicht mehr cooler. Vorbei sind die Zeiten, in denen Windows für den bebrillten Nerd mit sozialen Phobien steht und der Mac im St. Oberholz für Image-Bonus sorgt. Mal ehrlich: Selbst meine Mutter hat ein iPhone. Von der Masse (und Mama) abgrenzen geht viel besser mit Exoten wie Windows Phone – noch. (vbr)