Datenschützer bedauern Köhlers Abnicken der Vorratsdatenspeicherung

Nun kann nur noch das Bundesverfassungsgericht die wohl größte Datensammlung in der Geschichte Europas verhindern. Die Gegner des Überwachungsvorhabens sind gerüstet für den Gang nach Karlsruhe.

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Von
  • Andreas Stiller

Nun kann nur noch das Bundesverfassungsgericht die wohl größte Datensammlung in der Geschichte Europas verhindern. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) enttäuschte die Hoffnungen der Gegner der Vorratspeicherung von Telefon- und Internetdaten und unterzeichnete quasi als Weihnachtsgeschenk an die Bundesregierung und die Verkäufer von Speicherplatten das heftig umstrittene Gesetz zur Novelle der Telekommunikationsüberwachung. Die neuen Regelungen zum Abhören der Telekommunikation und zur sechsmonatigen verdachtsunabhängigen Vorhaltung von Verbindungs- und Standortdaten können damit prinzipiell nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt noch planmäßig zum 1. Januar in Kraft treten.

Anwälte, Journalisten und der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hatten im Vorfeld an Köhler noch eindringlich appelliert, das Gesetz wegen offensichtlicher verfassungsrechtlicher Mängel nicht zu unterzeichnen. Einem Sprecher des Bundespräsidialamts zufolge sahen die Experten dort aber "keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken". Ende 2006 hatte Köhler dagegen sowohl die Privatisierung der Flugsicherung als auch das Verbraucherinformationsgesetz gestoppt. Das Luftsicherheitsgesetz hatte der Präsident im Januar 2005 zwar noch unterzeichnet ­ allerdings nur mit Bauchschmerzen. So meldete Köhler zugleich erhebliche Bedenken an und empfahl, den Text vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. Nichts dergleichen war aus seinem Amt zur Vorratsdatenspeicherung zu hören.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar kritisierte die Massendatenlagerung dagegen gerade erneut scharf. Er sieht unter anderem die Hürden für den Zugriff auf die begehrten Kontakt- und Standortinformationen deutlich niedriger als oft behauptet. So dürften die erfaßten Daten auch bei minderschweren Straftaten verwendet werden, wenn diese mit Hilfe der Telekommunikation begangen worden seien, sagte er in einem AP-Interview. Zudem dürften Geheimdienste auch ohne Richtervorbehalt darauf zugreifen, während die IP-Adressen sogar Ordnungsämtern und Steuerfahndern offen stünden. Die Vorratsdatenspeicherung erhöhe die gespeicherte Datenmenge über jeden einzelnen immens, warnte Schaar. "Das gilt besonders für die Internetnutzung. Beim Handy und beim normalen Telefon hatte der einzelne bisher die Möglichkeit, diese Daten löschen zu lassen oder die Nummern zu kürzen. Diese Möglichkeit entfällt nun, und die Speicherungsdauer verdoppelt sich."

Die fürs hessische Landesparlament kandidierende Piratenpartei Hessen bedauerte die Entscheidung des Bundespräsidenten "zutiefst". Das Gesetz verstoße gegen die grundlegende Idee einer freiheitlichen Gesellschaft und "unterwandert das Grundgesetz in einer nie da gewesenen Art und Weise", erläuterte ihr Vorsitzender, Thorsten Wirth. Er werde Köhler zur Erinnerung und Aufklärung ein Exemplar des Grundgesetzes zukommen lassen. "Was hier und heute geschieht, sehe ich als einen Eingriff an, der einen irreparablen Schaden an unserer Demokratie hinterlässt." Es würden Überwachungsstrukturen aufgebaut, welche "die Stasi wie Waisenknaben aussehen lassen". Mit technischen Methoden könnten die erfassten Daten dazu genutzt werden das Privatleben jeder Person in Deutschland bis ins Kleinste offen zu legen.

Die zahlreichen Gegner des Vorhabens, das die große Koalition im Bundestag trotz heftiger Proteste von vielen Seiten gegen die Stimmen der Opposition beschloss und das in Folge auch den Bundesrat rasch passierte, haben Verfassungsbeschwerden angekündigt. So will der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung mit Unterstützung des Berliner Rechtsanwalts Meinhard Starostik nach Karlsruhe ziehen. Besorgte Bürger hatten bislang die Möglichkeit, sich online der geplanten "Massenbeschwerde" anzuschließen. Über 25.000 Aktivisten und mehrere Oppositionspolitiker gaben dem Anwalt eine entsprechende Vollmacht für die Absendung der 150-seitigen Beschwerdeschrift (PDF-Datei). Damit will Starostik auch beantragen, die Vorratsdatenspeicherung wegen "offensichtlicher Verfassungswidrigkeit" durch einstweilige Anordnung sofort auszusetzen.

Parallel dazu hat die FDP unter Regie des früheren Bundestagsvizepräsidenten Burkhard Hirsch ebenfalls eine Beschwerdeschrift vorbereitet. Auch die Liberalen wollen einen Eilantrag gegen das Gesetz stellen. Wegen der Feiertage dürfte beim Bundesverfassungsgericht aber vermutlich erst Mitte Januar über einen vorläufigen Stopp der Überwachungsbestimmungen entschieden werden.

Bei der Vorratsdatenspeicherung müssen Telefonanbieter von Neujahr an sechs Monate lang speichern, wer mit wem wann telefoniert hat. Bei Mobilfunkgesprächen wird auch archiviert, von wo aus telefoniert wurde. Konkret gespeichert werden Rufnummer, Uhrzeit, Datum der Verbindung und ­ bei Handys ­ der Standort zu Beginn des Gesprächs. Für die Internetprovider gilt eine Übergangsfrist bis Januar 2009. Beim Internet werden Daten zum Zugang (IP-Adresse) sowie zur E-Mail-Kommunikation und Internet-Telefonie erfasst. Der Kommunikationsinhalt oder der Aufruf einzelner Internetseiten sollen nicht gespeichert werden. Die Anbieter von Anonymisierungsdiensten sind ausdrücklich von den Speicherpflichten nicht ausgenommen, sodass viele private Server vor dem Aus stehen. Zugriff auf die Datenberge haben Polizei und Staatsanwaltschaft. Dafür brauchen sie in der Regel einen Richterbeschluss. Aber auch Geheimdiensten stehen die Vorratsdaten prinzipiell offen.

Einen absoluten Schutz vor Abhören haben mit dem Gesetz nur Strafverteidiger, Seelsorger und Abgeordnete. Andere Gruppen wie Ärzte, Journalisten und die übrigen Anwälte erhalten einen relativen Schutz. Maßnahmen gegen diese Gruppen sind bereits nach Abwägen der Verhältnismäßigkeit zulässig. (Stefan Krempl)

Zu Details der neuen Telekommunikationsüberwachung und der auf Vorrat gespeicherten Verbindungsdaten siehe:

Zum aktuellen Stand und der Entwicklung der Debatte um die erweiterte Anti-Terror-Gesetzgebung, die Anti-Terror-Datei sowie die Online-Durchsuchung siehe:

(as)