Neue Debatte über Linux-Migration in Berlin

Die Grünen werfen dem Senat vor, die Hauptstadtverwaltung im "IT-Mittelalter" zu belassen, die Entwicklung einer klaren IT-Strategie zu verschlafen und nicht einmal Basisdaten für eine Umstellungsanalyse parat zu haben.

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Die Grünen haben im Vorfeld einer Anhörung im Abgeordnetenhaus der Hauptstadt am morgigen Donnerstag, in der über die mögliche Umstellung der Rechnerlandschaft der Berliner Verwaltung auf Open Source debattiert werden soll, schwere Vorwürfe gegen den Senat erhoben. "Wir bewegen uns hier noch im IT-Mittelalter", beklagte Thomas Birk, Sprecher für Verwaltungsreform der grünen Fraktion im Berliner Landesparlament, heute bei einem Pressegespräch. Die Verwaltung habe einen "riesigen Investitionsstau" im IT-Bereich. Bei Neuanschaffungen von Hardware etwa zahle Berlin viel Geld dafür, neue Rechner zur Gewährleistung von Kompatibilität auf das mehrheitlich noch genutzte Windows NT "downzugraden". Um zumindest einmal eine Kosten-Nutzen-Analyse für die Entscheidung über die Migration hin zu einem neuen Betriebssystem zu erstellen, fehle dem Senat bereits die reine Datenbasis über gegenwärtig laufende Softwarelizenzen oder den bisherigen Anteil freier Software in der Verwaltung.

"Das Land hängt in der Luft", sekundierte der für IT zuständige Fachreferent der Grünen, Olaf Reimann. Es gebe zwar ein "IT-Kompetenzzentrum" in der Senatsinnenverwaltung, das für eine Koordination mit den Berliner Bezirken und dem landeseigenen IT-Dienstleistungszentrum (ITDZ) sorgen solle. Dieses erstelle auch eifrig Strategiepapiere, wonach letztlich aber jeder in der Verwaltung bei der Informationstechnik machen könne, was er wolle. Weder gebe es einen administrativen Vollzug, noch eine Prozesskontrolle oder eine Harmonisierung und Standardisierung. Insgesamt fehle ein funktionierendes Berichtswesen für den IT-Bereich und eine politische Zielsetzung. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass Berlin einen "IT-Staatssekretär" in der Verwaltung habe. Dieser lebe von Sprechzetteln des Kompetenzzentrums und habe auch keine Durchgriffsrechte bis hin zur Haushaltshoheit wie ein richtiger staatlicher CIO (Chief Information Officer).

Die oppositionellen Grünen haben bereits vor rund einem Jahr einen Stufenplan zur Umrüstung auf "wirklich offene Systeme" vorgelegt, der deutlich zurückhaltender ausgelegt ist als etwa die laufende Linux-Migration der Stadt München. Demnach sollen in einem ersten Schritt für alle Datenschnittstellen offene Standards mit einheitlichen Dateiformaten entwickelt werden. Danach soll das datenbasierte Berichtswesen so aktualisiert werden, dass es programmunabhängig und browserbasiert eingesetzt werden kann. Weiter sollen alle Server bei der Einführung neuer oder bei der Modifikation bestehender Verfahren nur noch Linux-basiert betrieben werden. Erst dann soll geprüft werden, ob die Berliner Verwaltung auch im Anwenderbereich mit ihren rund 58.000 Arbeitsplatzrechnern auf freie Software umgestellt werden kann.

Die Aufwendungen für das ganze Programm schätzt Birk auf 50 bis 100 Millionen Euro, da zunächst Kosten für Schulungen und Beratung einzubeziehen seien. Eine teure Migration stehe aber so oder so ins Haus. Die größten Vorteile des Linux-Wegs sieht Birk so zunächst weniger in sich möglicherweise einstellenden langfristigen Kostenersparnisse durch den Wegfall von Lizenzgebühren und längeren Softwarelaufzeiten. Vielmehr steht für ihn im Mittelpunkt, die Open-Source-Programme "ziel- und nutzungsgerecht auf die Berliner Bedürfnisse hin weiterentwickeln zu können". Damit würde die Verwaltung die Hoheit über ihre IT-Entscheidungen zurückerhalten. Zudem könnten bei der Umstellung viele kleine und mittlere Unternehmen aus der Region einbezogen werden.

"Die Wertschöpfung findet dann nicht in Redmond statt, sondern hier", betonte Birk in Richtung Microsoft. Daraus ergebe sich eine Stärkung des Innovationsstandorts Berlin und ein arbeitsmarktpolitischer Effekt. Um in diese Richtung voran zu kommen, müsse der Senat aber endlich seine Hausaufgaben machen, klare Steuerungsstrukturen schaffen und das vorhandene wissenschaftliche Know-how an Berliner Universitäten zur Entwicklung der IT-Strategie nutzen.

Insgesamt sehen sich die Grünen laut Birk in der "absurden Rolle", die rot-rote Regierungskoalition in Berlin zur Durchführung ihre eigenen Vorhaben zu drängen. Der Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses hatte bereits im Dezember 2005 vom Senat einstimmig die Vorlage eines Fahrplans zur Umrüstung auf freie Software verlangt. Es sollte zunächst um die Umstellung der Server und in einem späteren Schritt auch um die Umrüstung der rund 58.000 in der Hauptverwaltung benutzten Arbeitsplatzcomputer auf alternative Betriebssysteme sowie Desktop- und Anwendungssoftware aus dem Open-Source-Bereich gehen.

Die Umsetzung des Parlamentsbeschlusses ist aber ins Stocken geraten. Die Senatsverwaltung erklärte den Beschluss des Abgeordnetenhauses mit deutlicher Verspätung im vergangenen Jahr für letztlich "nicht umsetzbar". Im Juni stimmte Rot-Rot im Anschluss gegen den Antrag der Grünen zur Linux-Migration. Die Abgeordneten der Regierungsfraktionen wollten zunächst offene Fragen im Rahmen der nun stattfindenden Anhörung klären, zu der sie keinen Microsoft-Vertreter geladen haben.

Mit den permanenten Verzögerungen wird der Modernisierungsdruck in der Verwaltung laut Birk aber nur immer größer. Er rechnet im besten Fall mit dem Vorliegen einer Kosten-Nutzen-Analyse nach den Sommerferien. Dann sei der Etat für die von September an anstehenden Haushaltsberatungen schon wieder in Grundzügen festgelegt, sodass nur noch "Duftmarken" gesetzt werden könnten. Konkret sei man daher mit dem Start des Migrationsplans schon wieder im Jahr 2010 gelandet. Dies sei aber nicht der erste Zug, den die Senatsverwaltung im IT-Bereich verschlafen habe. (Stefan Krempl) / (jk)