Kanban-Szene wird zunehmend reifer

Lean Kanban ist eine noch recht junge Methode, und so war es im Oktober spannend, auf der Lean Kanban Central Europe in Wien zu beobachten...

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Von
  • Markus Andrezak

Lean Kanban ist eine noch recht junge Methode, und so war es im Oktober spannend, auf der Lean Kanban Central Europe in Wien zu beobachten, wie ein tieferes Verständnis zu den Grundwerten und der Kultur von Kanban in die Community Einzug gehalten haben.

Im Vergleich zum Vorjahr, als die Konferenz in München vor ebenfalls rund 200 Gästen stattfand, war anhand des Programms ein deutlicher Fortschritt sowie eine Vertiefung und Verlagerung der Erkenntnisse abzulesen. Während in den Jahren zuvor auf fast allen Kanban-Events noch einführende Vorträge oder welche zur Prozessmechanik am Kanban-Board zum Programm gehörten, waren derlei Vorträge nun fast gar nicht mehr vertreten. Auch das Thema, wie man am besten mit Kanban anfängt, ist aus dem Programm entschwunden. Der Fokus lag jetzt auf einem tieferen Verständnis, welche Grundwerte und Kultur Lean Kanban vertritt und wie sich diese in Unternehmen geduldig und vor allem auch nachhaltig implementieren lassen.

Stellvertretend für diese Betrachtungen standen die vier Keynote-Vortäge. Stephen Parry berichtete über seine langjährige Erfahrung in der Organisationsberatung von Unternehmen, die Lean-Methoden übernehmen wollen. Er stellte dabei einen Katalog von "Klimabedingungen" auf, die sich in Unternehmen messen lassen. Er stellte fest, dass die Werte bezüglich Engagement, Führung, Lernen und Verbessern in Firmen anfangs auf einem für die Massenproduktion durchaus angemessenen Niveau seien. Andere Aspekte wie Massenanpassung, Massenspezialisierung und letztlich wirklich am Kunden orientierte Entwicklung hochwertiger, innovativer Produkte benötigten in diesen grundlegenden Managementdimensionen jedoch wesentlich höhere Werte. Interessanterweise verfügten selbst Firmen, die in die Kategorie kundenorientierter Entwicklung fallen, anfangs meist über ein am ehesten der Massenproduktion entsprechendes Klima. Das birgt Konflikte und kaum Chancen für Erfolg. Mit gezielter Anpassung der Kultur, des Klimas, könnten solche Firmen lernen, echtes Kundenengagement, echte Teilnahme der Mitarbeiter zu übernehmen und schließlich die zu ihrer Tätigkeit passende Kultur anzunehmen.

Dave Snowden stellte in seiner Keynote das Cynefin-Modell bezüglich Komplexität in Wissensarbeit dar. Im Wesentlichen traf er dabei die Aussage, dass ein Modell zur Komplexität helfe, Vorgänge in menschlichen Organisationen zu verstehen und diese anhand biologischer Modelle aus der Evolution zu steuern. Zusammengefasst geschehe das, indem die Systembedingungen in einer Umgebung immer wieder leicht angepasst werden, sodass die Arbeitsumgebung zwischen kompliziert und komplex hin- und herschwängen. Analog zur Evolution lüden die laxeren Randbedingungen in komplexen Umgebungen zu Innovation ein, während die in der komplizierten Umgebung zur Ausnutzung der Innovationen führten. Entgegen der vereinfachten Meinung, komplexe Systeme ließen keine Planung zu, betonte Snowden, dass man in komplexen Systemen einfach anders plane, und zwar so, dass Elastizität (Resilience) unterstützt werde.

Don Reinertsen, gewissermaßen der geistige Vater von David Anderson, dem Schöpfer von Software Kanban, und schon seit dreißig Jahren im Lean Product Development zu Hause, verstand es wieder einmal, an lieb gewonnenen Prinzipien zu rütteln und die Community davor zu bewahren, auf ausgetretene Pfade zu gelangen. Er hinterfragte das lange behauptete Paradigma, dass das Pull-Prinzip und das Management von "Work in Progress" (WiP) nur zusammen funktionierten. Er stellte des Weiteren die These auf, dass WiP-Management allein bereits ein pragmatischer Ansatz sein könne, ohne gleich die gesamte Kultur durch den Pull-Ansatz auf den Kopf zu stellen. Eine These, die vor einem Jahr sicherlich noch niemand vertreten hätte. Womöglich ist seine Ansicht im nächsten Jahr schon Konsens.

David Anderson, Begründer von Kanban in der Softwareentwicklung

Auch David Anderson gab neue Denkanstöße. Er übertrug den Begriff der Liquidität in Finanzmärkten aufSoftwareentwicklungsteams. Nach seiner Theorie sind in der Softwareentwicklung ähnliche Eigenschaften gewünscht. Die Entscheidung, welchem Team, welcher Firma oder welcher Umgebung (Indien, Nearshore, lokales Team, welches lokale Team, welcher Anbieter?) man bezüglich der Entwicklung eines Produkts vertraut, werde demnach ähnlich getroffen wie eine Investitionsentscheidung. Bei den Finanzmärkten erkläre das inzwischen das Modell der Liquidität mit den Vektoren 'Breadth' (die Fähigkeit, große Aufträge abzuwickeln), 'Depth' (Ausführung von Aufträgen zu unterschiedlichen Preisen), 'Immedeacy' (die Fähigkeit, Aufträge schnell abzuwickeln), 'Resilience' (die Fähigkeit, unvorhergesehene Vorkommnisse schnell abzufangen), und Tightness (die Fähigkeit, Unterschiede zwischen Nachfrage und Angebotspreise gut ausgleichen zu können) gut erklärt. Anderson will nun untersuchen, ob eine Übertragung des Begriffs auf die Produktentwicklung hilfreich sei, um Entscheidungen zu treffen. Ebenso will er untersuchen, ob es möglich sei, die entsprechenden Werte von Entwicklungsteams gezielt zu erhöhen.

Als weiteren Trend waren Sessions auszumachen, die über den Tellerrand schauten und über die Frage hinausgingen, wie man am besten Produkte baue. Es ist hingegen zu beobachten, dass die Community, ähnlich wie die Lean Startup Community, weiterschaut und herausfinden will, wie man erkennen kann, was man bauen soll und welches die von Kunden gebrauchten oder geliebten. In dem Zusammenhang ist interessant, dass hier sofort die Erkenntnis greift, dass Umgebungen das am besten erkennen, in denen keine organisatorischen Silos vorkommen. Hier greifen dann Parrys Klimadebatte und auch die Theorie von Dave Snowden bezüglich der Komplexität – und der Kreis schließt sich. Die große Klammer um alle Vorträge war sowohl die Notwendigkeit ständiger Anpassung von Unternehmen und das damit notwendige Change Management.

Die Veränderung und Vertiefung der Themen im Vergleich zum letzten Jahr war rasant zu beobachten. Spannend bleibt es zu sehen, wohin sich die Community thematisch nächstes Jahr bewegt haben wird. Bis dahin könnte das Studium der Videoaufzeichnungen und Slides zu den Sessions das Warten verkürzen.

Markus Andrezak
ist Director Product bei MyHammer, Berlin und einer der Kanban-Pioniere Deutschlands. (ane)