"Ein Staat, in dem alle verdächtig sind, ist selbst verdächtig"

Die Proteste gegen Vorratsdatenspeicherung dauern an: FDP-Abgeordnete, vertreten durch Burkhard Hirsch, legen Verfassungsbeschwerde ein; weitere Trauermärsche stehen an. SPD-Fraktionschef Struck lenkt derweil beim Bundestrojaner ein.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 371 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.

Die Proteste gegen die am gestrigen Dienstag in Kraft getretene Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten dauern auch im neuen Jahr an. Nach Hamburg stehen nun Trauermärsche über die verdachtsunabhängige Aufzeichnung der Nutzerspuren und den damit verknüpften Verlust der Privatsphäre auch in Kassel, Frankfurt und München an. Dabei wird von Bürgerrechtlern jeweils der Sarg als Symbol für den Abbau von Grundrechten durch die Innenstädte getragen, der bereits in der Hansestadt zum Einsatz kam. Laut dem Veranstalter der Kundgebungen, dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, soll der Totenschrein bereits am heutigen Mittwoch in Kassel eintreffen, wo die Demonstration um 16 Uhr am Königsplatz starten soll. Treffpunkt für die Teilnehmer des darauf folgenden Trauerzugs in Frankfurt am Main am Donnerstag ist um 19 Uhr am Paulsplatz, von wo aus es durch die Zeil zur Konstablerwache geht. Neben dunkler Trauerkleidung empfiehlt der Arbeitskreis das Mitbringen von Fackeln oder Grablichtern.

Mit einer größeren Demonstration rund um den "Bundessarg" mit dem Motto "Was zählt ist Freiheit" rechnet der Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Internetnutzern schließlich am Sonntag in München. Dort sollen sich besorgte Bürger um 12.30 Uhr vor der Konferenzhalle Theresienhöhe einfinden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hält dort zuvor eine Rede zum Thema "Was zählt ist Sicherheit". Wegen des hohen Konfliktpotenzials hat der Veranstalter der Gegenkundgebung noch einmal darum gebeten, die Demonstration "kreativ, aber friedlich" durchzuführen und von Verstößen etwa gegen das Vermummungsverbot abzusehen. Alles andere liefere Innenpolitikern nur Vorwände für weitere Rufe nach "Law and Order".

Der Arbeitskreis hat am Montag bereits eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe gegen das heftig umstrittene Gesetz zur Novelle der Telekommunikationsüberwachung eingereicht, für die rund 30.000 Vollmachten aus der Bevölkerung vorliegen. Sie enthält auch einen Eilantrag, wonach die Ende vergangenen Jahres im Bundesgesetzblatt verkündeten Regelungen (PDF-Datei) baldmöglichst bis zu einer eingehenden Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht wieder außer Kraft gesetzt werden sollen. Separat wollen auch FDP-Abgeordnete, vertreten durch den Altliberalen Burkhard Hirsch, sowie die Humanistische Union nach Karlsruhe ziehen. Voraussichtlich noch heute sollen ihre Beschwerden beim Verfassungsgericht eintreffen. "Ein Staat, in dem alle verdächtig sind, ist selbst verdächtig", erklärte Hirsch vorab. Auf einen Eilantrag zum Aufhalten des Gesetzes will er laut Medienberichten aber verzichten.

Politiker aus allen großen Oppositionsparteien haben die Vorratsdatenspeicherung derweil erneut als verfassungswidrig gebrandmarkt. "Dieses Gesetz ist ein unzulässiger Eingriff in unsere Rechte. Es stellt alle Bürger des Landes unter Verdacht", sagte Bundestagsvizepräsident Hermann Otto Solms (FDP) der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Er werde sich daher persönlich an der Verfassungsbeschwerde beteiligen. Der FDP-Rechtsexperte im Bundestag, Max Stadler, zeigte sich gegenüber der Financial Times Deutschland optimistisch, "dass das Bundesverfassungsgericht die Regelung aufheben wird". Bisher hätten nur Verdächtige mit der Kontrolle ihrer Daten rechnen müssen. "Jetzt werden erstmals Daten von gänzlich Unverdächtigen für polizeiliche Zwecke gespeichert."

Für die Grünen bemängelte deren parlamentarischer Geschäftsführer, Volker Beck, dass erstmals Unternehmen gezwungen würden, ohne den geringsten Verdacht auf Straftaten Verbindungs- und Standortdaten ihrer Kunden sechs Monate lang aufbewahren müssten. Aus den großen Mengen sensibler Informationen könnten auch Hinweise auf persönliche Neigungen oder Krankheiten von Menschen abgeleitet werden. Hier drohe Missbrauch. Die Grünen-Bundesvorsitzende Claudia Roth sowie Malte Spitz aus dem Bundesvorstand der Grünen bezeichneten die anlassunabhängige Vorratsdatenspeicherung als "nicht hinnehmbar". Der Raubbau am Rechtsstaat durch die große Koalition müsse verhindert, die Bürgerrechte unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters gestärkt werden. Die beiden Politiker haben sich der Massenbeschwerde angeschlossen. Mit dabei beim Gang nach Karlsruhe ist auch die stellvertretende Vorsitzende der Linken, Petra Pau. Für sie stehen "verbriefte Buergerrechte und mit ihnen der demokratische Rechtsstaat auf dem Spiel". Stattdessen drohe ein präventiver Sicherheitsstaat.

Ernst Benda, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, bezeichnete die Vorratsdatenspeicherung ebenfalls als "besonders fragwürdig". Es gehe um die Frage der Verhältnismäßigkeit, sagte das CDU-Mitglied gegenüber tagesschau.de. "Einen Staat, der mit der Erklärung, er wolle Straftaten verhindern, seine Bürger ständig überwacht, kann man als Polizeistaat bezeichnen. Den Polizei- oder Überwachungsstaat wollen wir nicht. Aber wir wollen, dass der Staat seine Sicherheitsaufgaben angemessen erfüllt." Zwischen diesen beiden Polen sei ein Mittelweg zu suchen.

Geht es nach SPD-Fraktionschef Peter Struck, wird 2008 aber nicht nur das Jahr der Vorratsdatenspeicherung, sondern auch des so genannten Bundestrojaners. In einem Interview mit dem Stern ging der Ex-Verteidigungsminister nach SPD-Innenpolitiker Sebastian Edathy wieder ein Stück auf die Union zu: "Die Sicherheitsbehörden haben uns überzeugend dargelegt, dass viele Terror-Aktivitäten mit Hilfe des Internets koordiniert werden." Er sei daher für heimliche Online-Durchsuchungen, wenn dabei rechtsstaatliche Bedingungen wie die Wahrung des Richtervorbehalts eingehalten würden. Mit Blick auf die für dieses Jahr anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über Online-Razzien in Nordrhein-Westfalen sagte der SPD-Politiker: "Wenn Karlsruhe Online-Durchsuchungen nicht für verfassungswidrig hält, werden wir sie auch einführen – mit den Einschränkungen, die das Gericht fordert." Er sei sich auch "ganz sicher", dass ihm dabei die eigene Fraktion ohne Murren folgen werde.

Zum aktuellen Stand und der Entwicklung der Debatte um die erweiterte Anti-Terror-Gesetzgebung, die Anti-Terror-Datei sowie die Online-Durchsuchung siehe:

(Stefan Krempl) / (jk)