Der Fahrradversteher

Fast jeder Mensch kann Rad fahren – die Physik dahinter ist jedoch äußerst komplex. Ein holländischer Ingenieur erforscht das Zusammenspiel von Rädern, Rahmen, Muskeln, Lenker und Tretkurbel – und entdeckt: Es funktioniert anders als lange gedacht.

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Von
  • Holger Dambeck

Fast jeder Mensch kann Rad fahren – die Physik dahinter ist jedoch äußerst komplex. Ein holländischer Ingenieur erforscht das Zusammenspiel von Rädern, Rahmen, Muskeln, Lenker und Tretkurbel – und entdeckt: Es funktioniert anders als lange gedacht.

Wenn Arend Schwab morgens in sein Labor an der TU Delft kommt, hat er schon hundertfach gesehen, was ihn als Ingenieur so fasziniert. Am Bahnhof, vor jedem großen Geschäft, auf den rot gepinselten Wegen rund ums Institut – überall rollen oder stehen Fahrräder. Viele sind alte Klapperkisten. Doch so betagt die Drahtesel auch sein mögen, sie fahren immer noch – und das nahezu perfekt.

Warum eigentlich? Weshalb fällt uns das Radfahren so leicht? Und warum kippt ein Rad nicht um, selbst wenn wir freihändig fahren? Viele Physiker beantworten diese grundlegenden Fragen bis heute falsch. Der Irrtum, dass allein die Kreiselkräfte der rotierenden Räder ein Rad stabilisieren, hält sich hartnäckig. Schwab weiß es besser. Sein Forscherteam gehört zu den wenigen auf der Welt, das sich mit der Dynamik des Fahrrads beschäftigt. Er kann diese Dynamik inzwischen bis ins kleinste Detail erklären – dank eines physikalischen Modells, das er am Computer entwickelt hat.

Das Ganze ist weit mehr als wissenschaftliche Spielerei. Mit seinem Modell will der bärtige Professor die Fahreigenschaften von Rädern spürbar verbessern. 2007 war Schwabs Computermodell fertig. Damit kann er nun die Fahreigenschaften beliebig konstruierter Bikes simulieren. Und die erste Erkenntnis daraus war wenig überraschend. Das Modell bestätigt, wie gut die Rahmengeometrie ist, nach der Räder seit mehr als 150 Jahren gebaut werden. Vorder- und Hinterrad sind gleich groß, die Lenkerachse ist etwa 18 Grad nach hinten und die Gabel nach vorn geneigt. Dies macht das Rad so stabil, dass es bei Geschwindigkeiten ab etwa 15 km/h auch ohne Fahrer Dutzende Meter rollt, ohne umzukippen.

"Wir haben inzwischen ein sehr gutes physikalisches Modell für das Fahrrad ohne Fahrer", sagt Schwab. Das erklärt, warum ein Rad, das man anstößt, nicht umkippt, sondern Dutzende Meter wie von Geisterhand ausbalanciert zurücklegt: "Entscheidend ist die Reaktion des Vorderrads. Sobald das Rad insgesamt zur Seite kippt, muss das Vorderrad dieselbe Richtung einschlagen", so der Forscher. Gleichzeitig aber lieferte Schwab die Analyse eine revolutionäre Entdeckung: Zweiräder lassen sich selbst dann stabilisieren, wenn weder Kreiselkräfte noch Nachlauf wirken. Seit Jahrzehnten gelten sie als einzige Voraussetzungen dafür, dass Radfahren kein anstrengender Balanceakt ist.

Die Kreiselkräfte der rotierenden Reifen wirken dem Kippen entgegen, und der Nachlauf sorgt dafür, dass das Rad weiter geradeaus fährt. Dieser Nachlauf entsteht, weil die Achse der Vorderradgabel geneigt ist. Das Vorderrad berührt den Boden dadurch ein Stück hinter der gedachten, bis zum Boden verlängerten Gabelachse. Ein Effekt, den auch Konstrukteure bei Einkaufswagen nutzen, um sicherzustellen, dass Kunden die Gefährte leicht manövrieren können. Alle Räder drehen sich dadurch immer automatisch in die Richtung, in die man den Wagen schiebt.

Schwab konnte erstmals beweisen, dass ein Zweirad auch ohne diese Gesetzmäßigkeiten von allein geradeaus fahren kann – wenn seine Konstruktion entsprechend geändert wird. Das Kunststück gelang durch geschickt verteilte Massen – zunächst in der Simulation am Computer und später auch in der Realität. Beim sogenannten Two-Mass-Skate ist das Oberrohr weit über die Vorderradgabel verlängert. Ganz vorn an dem Rohr hängt ein schweres Stück Blei. Das Paper über das Geisterrad erschien im Wissenschaftsmagazin "Science", das Rad steht inzwischen im Science-Museum der TU Delft. Nachdem Schwab das Rätsel des sich allein stabilisierenden Rads gelöst hat, will der Holländer nun Mensch und Rad als Einheit modellieren.

Das mitunter filigrane Zusammenspiel von Armen, Lenker, Pedalen und Beinen haben Forscher bislang nur ansatzweise verstanden. Der Ingenieur möchte ergründen, warum sich Räder unterschiedlich gut fahren, obwohl sich ihre Geometrie kaum unterscheidet. Bei den ersten Untersuchungen zur Rad-Fahrer-Interaktion haben die Delfter Forscher bereits eine große Überraschung erlebt. "Wir haben uns gefragt, was wir eigentlich tun, wenn wir ein Rad ausbalancieren." Auch er selbst sei davon ausgegangen, dass dies auch mit Bewegungen des Oberkörpers geschehe. Doch Videoaufzeichnungen auf einem 5x3 Meter großen Laufband zeigten, dass dies nicht stimmt.

Schwab schickte einen Radfahrer auf das Rollband, an dessen Körper 31 Marker befestigt waren. Ihre Position wurde 100-mal pro Sekunde erfasst. Dieses sogenannte Motion Tracking, das auch Trickfilmstudios nutzen, um 3D-Figuren menschliche Bewegungen zu verpassen, ergab, dass Fahrer ihr Rad bei Geschwindigkeiten um die 20 km/h allein durch minimales Lenken stabilisieren. Sinkt die Geschwindigkeit, werden die Lenkerausschläge immer größer, und irgendwann wird das Rad so wackelig, dass die Beine eingreifen müssen. Nicht etwa mit dem Oberkörper, sondern durch Hin- und Herbewegen der Knie wird das Rad dann vorm Umkippen bewahrt.

Diese Erkenntnisse könnten das Radfahren sicherer machen. Schwab schweben Räder vor, die praktisch nicht mehr umkippen können – selbst bei geringen Geschwindigkeiten. Der Prototyp, mit dem das gelingen könnte, steht aufgebockt in der Mitte des Labors. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein ganz normales Rad, an dessen Lenker ein paar Zahnräder geschraubt sind. Doch wer genau hinschaut, erkennt, dass der Lenker und die Vorderradgabel nicht mehr miteinander verbunden sind. Kleine, an das Oberrohr montierte Elektromotoren übernehmen das Drehen der Gabel.

"Wir nennen es 'steer by wire'", sagt Schwab (Lenken über Kabel). Eine Anspielung auf "fly by wire" – ein ähnliches Konzept für Flugzeuge. Der Pilot steuert dabei die Klappen an den Flügeln nicht mehr über Drahtzüge, die bis ins Cockpit reichen, sondern mit elektronischen Befehlen an Servomotoren. Wenn der Lenker des Delfter Testrades eingeschlagen wird, erfassen dies Sensoren und leiten die Messwerte an eine Platine weiter, die auf dem Gepäckträger sitzt. Der Controller gibt dann den Befehl an die Motoren, das Vorderrad zu drehen. Doch statt allein auf Lenkbewegungen zu reagieren, könnte der Controller auch selbstständig aktiv werden, beispielsweise wenn das Rad zu einer Seite zu kippen droht. Schwab hofft, dass Minicomputer und Stellmotoren eines Tages ein Rad vollautomatisch ausbalancieren können. Ein derart ausgerüstetes Bike könnte Senioren, die das Gleichgewicht nicht mehr so gut halten können, ein gefahrloses Radeln ermöglichen.

So vertraut Fahrräder uns inzwischen sind, die offenen Fragen gehen dem Fahrradversteher aus Delft nicht aus. Auch die Geometrie von Falträdern würde der Ingenieur gern optimieren. Die Räder sind bei Pendlern beliebt, weil man sie bequem im Zug mitnehmen kann. Die Fahreigenschaften überzeugen Schwab jedoch nicht: "Darauf traut man sich kaum, eine Hand vom Lenker zu nehmen", so der Forscher. Die Größe der Laufräder lasse sich zwar kaum verändern. "Man kann das Rad aber mit verschiedenen Maßnahmen stabiler machen." Welche dies für Falträder sind, will Schwab noch herausfinden. (bsc)