Schwarzweiß hat viele Farben: Joe Weizenbaum zum 85. Geburtstag

Gegen den zunehmenden Wahn, mit Computern immer größere Datensammlungen auf Vorrat anzulegen, um etwaige Abweichler und Andersdenkende auszusondern, setzt der Wissenschaftler auf den Mut des Einzelnen gegen alle Bequemlichkeiten.

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Von
  • Detlef Borchers

Mitten in Berlin, gegenüber dem Abbruch-Palast der Republik, in einem Gebäudekomplex, in dem früher SED-Bonzen lebten, wohnt der Gesellschaftskritiker Joe Weizenbaum und feiert heute seinen 85. Geburtstag. Viele Jahre hat er in Amerika am MIT "Computer Science" gelehrt und den Glauben an die Allmacht der Computer kritisiert. "I believe in an America that is not torturing people", steht an der Tür zu seiner Wohnung, die sich als fröhliches Chaos von Computerbauteilen, Zeitungsartikeln, Büchern, Schreibuntensilien und vor allem Fotozubehör entpuppt.

Wenige Tage ist es her, dass der gebürtige Berliner Joseph Weizenbaum entdeckt hat, dass seine Leica-Digitalkamera einen Schwarzweiß-Modus hat. "Das ist wunderbar. So kann ich wieder wie in meiner Jugend fotografieren", freut sich der Wissenschaftler, "Schwarzweiß hat so viele Farben." Weizenbaum hat viele kleine Gründe, sich zu freuen. Eine Chemotherapie hat er hinter sich, die Ärzte geben ihm nur noch wenige Monate "und ein paar Tage Abzug für den Irrsinn des Berliner Verkehrs" witzelt er, der an Berlin gekettet ist: Hier ist die medizinische Behandlung für Opfer des Naziregimes kostenlos, aber nur, wenn sie in Berlin wohnen bleiben. So bleibt Joe Weizenbaum und fotografiert, wie er in den 50er-Jahren fotografiert hat. Der Rebel at Work freut sich über den entdeckten Fotomodus, ein Konzert der Berliner Philharmoniker und über seinen Geburtstagsartikel in der Süddeutschen Zeitung. Er freut sich, dass die Kraft wieder da ist für Vortragsreisen, auch wenn sie ihn sehr erschöpfen.

Dabei hätte Joe Weizenbaum Grund genug, sich zu ärgern. Er möchte auf dem jüdischen Friedhof beerdigt werden, doch die Gemeinde ist dagegen, weil Dokumente fehlen. Bei ihrer überstürzten Flucht aus Berlin im Jahre 1936 hatte Kürschnermeister Jechiel Weizenbaum nur die wichtigsten Dokumente mitgenommen, dafür ganz viele Pelze, mit denen Frau und Kinder angezogen waren. Sie bildeten den Grundstock für den Neuanfang in Detroit. Die missliche Situation als Papierloser sollen Kopien aus dem Fundus seines verstorbenen Bruders Henry Sherwood abstellen.

Als die medizinische Behandlung begann, fing Joe Weizenbaum damit an, eine Art Lebensbilanz zu ziehen. Wir gegen die Gier ist die kondensierte Form dieser Bilanz. Gegen den zunehmenden Wahn, mit Computern immer größere Datensammlungen auf Vorrat anzulegen, um etwaige Abweichler und Andersdenkende auszusondern, setzt Joseph Weizenbaum auf den Mut des Einzelnen gegen alle Bequemlichkeiten:

"Es ist ein schmerzlich irrer Glaube, dass Zivilcourage nur im Zusammenhang mit welterschütternden Ereignissen bewiesen werden kann. Im Gegenteil, die größten Anstrengungen kostet sie oft in jenen kleinen Situationen, in den die Herausforderung darin besteht, die Ängste zu überwinden, die uns überkommen, wenn wir über unser berufliches Weiterkommen beunruhigt sind, über unser Verhältnis zu jenen, die in unseren Augen Macht über uns haben, über alles, was den ruhigen Verlauf unseres irdisches Leben stören könnte." (Detlef Borchers) / (anw)