Krebsforscher: Mit speicherresidenter Datenbank gegen Tumore

Big Data im Krankenhaus: Der Kampf gegen Krebs mit immer spezielleren Therapien lässt die Zahl der Behandlungswege und damit der zu analysierenden Datenberge anschwellen. Die Berliner Charité bietet Medizinern mit SAPs HANA einen ungewöhnlichen Helfer.

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Von
  • Heiko Lossie
  • dpa

Big Data im Krankenhaus: Der moderne Kampf gegen Krebs mit immer spezielleren Therapien lässt die Zahl denkbarer Behandlungswege anschwellen – und damit auch die Datenberge, die für eine auf die Patienten abgestimmte Therapie erhoben und analysiert werden müssen. Die Berliner Charité will mit der speicherresidenten Datenbank HANA, vom Hersteller SAP "In-Memory-Computing-Plattform" genannt, einen Helfer für schnelle Analysen und Therapie-Entscheidungen noch am Krankenbett bereitstellen.

Es heißt, jemand verliere leichter die Furcht vor etwas, wenn er es erst einmal gesehen hat. Diese Weisheit gilt nur bedingt für eine Anschauungsstunde zum Thema Krebs, wie sie in der Pathologie an der Berliner Charité möglich ist. In einem der Räume dort hinter der roten Klinkerfassade ist die Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes allgegenwärtig. Laboranten in weißen Kitteln bearbeiten Gewebeteile, die auf Plastikbrettchen liegen. Es riecht beißend nach Konservierungsmittel. Ein Mitarbeiter schneidet gerade mit einer Art Rasiermesser eine Niere auf – in ihr wucherte ein tennisballgroßer Zellhaufen so stark, dass er aus dem Organ quoll. Gleich am Tisch daneben liegt, scheibchenweise, eine Brust.

Daten und Analysen zur Krebsbehandlung gelangen mittels HANA aufs Tablet des behandelnden Arztes am Krankenbett.

(Bild: SAP )

Die Arbeit des Teams ist durchaus das Hinschauen wert. In einem Projekt will die Charité Krebstherapie mit SAPs Datenbanktechnik verbinden, die bisher vor allem Firmen zur Analyse großer Datenmengen in Echtzeit nutzen. Der erste Schritt ist aber die Laborarbeit. Die Mitarbeiter markieren das Wachstum der Tumore mit verschiedenen Farben, um die Stadien der Ausbreitung zu kennzeichnen – etwa markante Übergänge in andere Gewebeschichten. "Das kommt alles direkt aus dem OP", erklärt Christian Regenbrecht, der die Projektgruppe mit leitet. Der Ansatzpunkt der Forscher: Tumor ist nicht gleich Tumor. Modernste Technik kann die Unterarten und ihre Ursachen immer genauer aufschlüsseln und so im Idealfall Therapieansätze verfeinern.

"Der Schlüssel dazu liegt in der DNA", sagt Regenbrecht. So individuell wie die bei jedem sei, so individuell könnten Therapien aussehen. So gebe es hierzulande fast 60.000 neue Brustkrebsfälle pro Jahr. Alle Erkrankten bekämen nach der OP Chemotherapien. "Aber nur circa 40 Prozent profitieren davon auch im Nachhinein." Der Rest leide nur an den Nebenwirkungen. Eine davon ist, ausgerechnet, Krebs.

Der Traum der Mediziner: Mit genügend Wissen kann die Behandlung auf Patienten zugeschnitten werden und wirkt so besser. Im Idealfall erspart man sich unnötige Nebenwirkungen – und unnötige Kosten. In Deutschlands Gesundheitssystem mit der wachsenden Zahl alter Menschen ist auch das ein Treiber bei Projekten wie dem in der Charité. Eine Chemotherapie kann die Krankenkasse durchaus 100.000 Euro kosten. Doch neben einer Kostenersparnis birgt die personalisierte Medizin auch denkbare Problemfelder: Mit ihr schrumpft der Absatzmarkt für Arznei – eine Herausforderung bei den hohen Entwicklungskosten.

Der promovierte Biologe Regenbrecht verlässt das Labor mit den Tumoren und führt über verwinkelte Treppen in einen ganz besonderen Raum: Durch ausladende Fenster strömt brüchiges Licht in einen Saal, in dem Ruinen aus dunklem Backsteinen ein stufenartiges Halbrund formen. Staubkörner tanzen in den quer einfallenden Sonnenstrahlen. Hier, in diesem einstigen Hörsaal, lehrte Rudolf Virchow (1821-1902), Begründer der modernen Pathologie in Deutschland und Namensgeber des heutigen Instituts für Pathologie auf dem Campus der Charité. Heutzutage sind die Gründe für vieles, was Virchow nur beschrieb, gut erforscht, was gezielte Behandlungsformen ermöglicht.

Doch je genauer der Krebs eines Patienten analysiert werden kann, desto ausufernder werden die Datenfluten und Wege und Kombinationen diverser Behandlungsformen. Die Daten eines Krebskranken können ganze Festplatten füllen. Dort kommt die Verbindung des Projektes zur Computerwelt ins Spiel. Mittels HANA wollen die Projektbeteiligten die riesigen Datensätze blitzschnell im Arbeitsspeicher analysieren. Die Mediziner haben dadurch per Tablet-PC Hana noch am Patientenbett in Sekundenschnelle Zugriff auf die Krankheitshistorie und zusätzlich auf relevante Studien etwa über Medikamentenwirksamkeit oder Therapieerfolge. "Im Alltag müssen Ärzte heute in Instituten anrufen, Akten und Präparate anfordern oder auf die Erreichbarkeit von Experten warten", erklärt Regenbrecht. Die Zukunft könnte sein, dass Therapiedaten online global vereint sind.

Ärzte aus der Praxis der täglichen Krebstherapie bestätigen, dass vieles zeitraubend sein kann. Professor Tim Brümmendorf, Krebsexperte an der Uniklinik Aachen, sagt beispielsweise: "Das Bewältigen dieser Datenflut kostet die Assistenzärzte auf der Station viel Zeit." Zwar seien die relevanten klinikinternen Befunde schon in elektronischen Patientenakten enthalten. "Aber alles, was wir extern haben wollen, läuft immer noch überwiegend per Anforderung", erklärt Brümmendorf, der in Aachen die Klinik mit Krebsforschungsschwerpunkt leitet. "Wir beklagen die administrative Überfrachtung der Ärzte auf unseren Stationen. Das reduziert die Zeit am Patientenbett" beschreibt er die generelle Herausforderung.

Der Mediziner findet das Projekt aus der Charité daher spannend - aus zweierlei Gründen: Zum einen könnte man in einem solchen System sogenannte "aktive" Behandlungspfade wie eine Art Gebrauchsanweisung hinterlegen. Sie erleichterten die Auswahl, Durchführung und Dokumentation bewährter Therapien, für die es allgemeine anerkannte Leitlinien gibt. Das diene der Qualitätssicherung und würde auch in der Ausbildung hilfreich sein. Andererseits könnte die Software bei der Recherche helfen, wenn Erkrankte unter seltenen Krebsformen leiden. "Hinweise zu passenden Studien, an denen sich die Patienten beteiligen könnten, wären da denkbar", meint Brümmendorf.

Theoretisch hält er es für möglich und wünschenswert, dass die Erkenntnisse der Krebsforschung künftig über Ländergrenzen hinweg stärker vernetzt werden. Vieles habe aber technische Hürden, das fange schon mit unterschiedlicher Klinik-EDV an. Manche Formate seien nicht kompatibel, was Schnittstellen erschwere.

Die Datenflut in der Krebstherapie beschäftigt auch Professor Christof von Kalle am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. "Das ist ein enorm wichtiges Thema und es gibt dabei zwei wesentliche Probleme", erklärt der Experte aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Erstens wachse die schiere Menge an Informationen stetig an, etwa wegen der immer höher aufgelösten Daten aus modernen Untersuchungsmethoden wie der Kernspintomographie – oder wegen des immer detaillierteren Wissens über Teilbereiche aus dem menschlichen Erbgut. "Aber es ist nicht nur dieses Mengenproblem, auch die Vielfältigkeit der Datenformate steigt", sagt von Kalle.

"Es geht zunehmend darum, Informationen aus mehreren Datenbanken, die man in der Klinik auf allen Ebenen hat, auch wirklich gemeinsam auf einem System und auf einem Bildschirm abrufen zu können. Die Herausforderungen dabei gehen schon mit dem Datenschutz los", sagt der Mediziner, der sich in Projekten unter anderem darum kümmert, bei der Krebstherapie verschiedene Fachrichtungen besser zu verzahnen oder klinische Studien zur Entwicklung neuer Krebstherapien einfacher zu gestalten. Vieles beim Umgang mit der wachsenden Datenflut stecke noch in den Kinderschuhen. "Man muss das Thema von der Wurzel aus angehen und sich zum Beispiel um die Abstimmung von Datenformaten kümmern." Nur so würden Arbeitsgruppen durchlässig für gemeinsame Arbeit. "Klinische Studien haben diese Datenverbünde heute schon."

Wie eine solche stärkere Vernetzung aussehen könnte, zeigt die Charité schon heute im kleinen Maßstab. HANA verknüpft Daten von 15.000 hauseigenen Patienten. "Die Software unterstützt aktiv Behandlungsstrategien, mit ihr lassen sich Szenarien entwickeln und vorausdenken", erläutert Regenbrecht. Auch kleine Kliniken fern der Universitätsstädte könnten profitieren. "Denn die Software könnte auch automatisch Hinweise geben und auf verwandte Studien verweisen oder alternative Wege der Kollegen."

SAP ist mit der Idee von Echtzeit-Technik in der Medizin nicht alleine. Die Konkurrenz der Darmstädter Software AG etwa nennt ihre Lösung "BigMemory" und erprobt Einsatzszenarien in der Telemedizin, bei der es darum geht, den mitunter datenreichen Status von Patienten über mobile Medizingeräte auch fern vom Krankenbett abzufragen.

Wie oft bei neuen Wegen in der Medizin tauchen auch eine Menge ethischer Fragen auf. "Es wird in der personalisierten Medizin künftig Fälle geben, in denen wir klar ja oder Nein sagen können und Therapien damit auch ausschließen", sagt Regenbrecht. Bei aller Härte einer solchen Diagnose – Todkranken könne die Gewissheit, austherapiert zu sein, auch viel Leid ersparen. Der Datenschutz ist eine weitere wichtige Hürde, die es auf dem Weg zu einem vernetzteren System an Krebsdaten gibt. Je zentralisierter die Daten vorliegen, umso verheerender wäre ein unbefugter Zugriff, bei dem beispielsweise Kriminelle die Informationen abgreifen könnten. Und nicht zuletzt wäre auch die Macht des Anbieters eines solchen Systems kritikwürdig. (jk)