"Die USA sollten nach höheren Bäumen Ausschau halten"

Der Harvard-Ökonom Ricardo Hausmann über die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der USA und ihre Chance, in der kommenden Produktionsrevolution wieder an die Weltspitze zurückzukehren.

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Von
  • Antonio Regalado

Der Harvard-Ökonom Ricardo Hausmann über die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der USA und ihre Chance, in der kommenden Produktionsrevolution wieder an die Weltspitze zurückzukehren.

Wie kaum ein westliches Land haben sich die USA zur „Postindustriellen Gesellschaft“ gewandelt, die der Soziologe Daniel Bell bereits 1973 in seinem gleichnamigen Buch prognostizierte. Millionen Jobs gingen seit damals in der verarbeitenden Industrie verloren, die viele Produktionsstandorte ins Ausland verlegt hat. Folge: Das US-Handelsdefizit bei physischen Gütern liegt heute bei 738 Milliarden Dollar – jährlich.

Was tun? Eine Antwort könnte der venezolanische Ökonom Ricardo Hausmann haben. Der frühere Chefökonom der Interamerikanischen Entwicklungsbank berät heute als Direktor des Center for International Development der Harvard University Entwicklungsländer wie Angola oder Nigeria - Länder, die bislang noch überhaupt keine industrielle Basis entwickelt haben.

Aufbauend auf Handelsdaten und komplexitätstheoretischen Verfahren hat Hausmann einen Ökonomischen Tauglicheitstest für Nationen entwickelt. Mit dem untersucht er, in welchen Produktionssparten eine Volkswirtschaft gut ist und welche hochwertigen Güter sie in Angriff nehmen sollte.

Dabei erhält Hausmann immer wieder überraschende Ergebnisse. Ein Land mit einer wettbewerbsfähigen Textilindustrie sollte sich der Fertigung von Elektronikprodukten zuwenden – denn beide Branchen brauchen eine gute Logistik und eine zuverlässige Stromversorgung. Länder, die Schnittblumen exportieren, sollten wiederum darüber nachdenken, in die Tiefkühllogistik einzusteigen, die den verstärkten Export von Frischeprodukten fördert.

Technology Review sprach mit Hausmann darüber, warum die USA viel von ihrer Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt haben, warum sich die Industrieproduktion mit einem Wald voller Affen vergleichen lässt und was die Vereinigten Staaten tun sollten, um ihre industrielle Stärke zurückzugewinnen.

Technology Review: Herr Hausmann, warum sind in den USA vor allem in den 2000er Jahren so viele Industriearbeitsplätze verloren gegangen?

Ricardo Hausmann: Der wesentliche Grund ist, dass die Produktivität in der verarbeitenden Industrie rasch gestiegen ist, während die Nachfrage nach ihren Produkten langsamer gewachsen ist. Um das Zeug herzustellen, das die Menschen haben wollen, braucht man nicht mehr so viele Jobs.

Andererseits ist es leichter geworden, physische Dinge in anderen Teilen der Welt zu produzieren. Der Wettbewerb hat zugenommen, auch durch Länder mit niedrigeren Löhnen. Indem sie die US-Produktion nachbilden, erobern sie Marktanteile.

TR: Was wäre die beste Strategie für die USA, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?

Hausmann: Ganz sicher keine Abwehrhaltung, also der Versuch, Arbeitsplätze zu erhalten. Die USA haben im Vergleich mit anderen Ländern sehr hohe Löhne. Sie haben aber auch komparative Vorteile: umfassendes technisches Knowhow, einen großen Anteil an Forschung und Entwicklung sowie die weltweit beste Basis an Wissenschaft und Technik.

Von daher wäre es für die USA am sinnvollsten, sich zum Hersteller von Maschinen zu entwickeln, die die nächste globale Produktionsrevolution antreiben werden. Das ist der Sektor mit den komplexesten und anspruchsvollsten Produkten, und der kann auch hohe Löhne zahlen.

TR: Was meinen Sie mit der nächsten Produktionsrevolution?

Hausmann: Meine These ist, dass Entwicklungen in Informationstechnik, 3D-Druck und Netzwerken die industrielle Produktion neu formen. Hier wird es massive Investitionen geben. Die USA sind gut aufgestellt, um die entsprechenden Maschinen zu liefern. Nur Deutschland und Japan können ihnen hier Konkurrenz machen.

TR: Sie betrachten Volkswirtschaften als „Produktionsräume“. Was meinen Sie damit?

Hausmann: Der Produktionsraum ist die Sphäre aller machbaren Produkte. Ich vergleiche das mit einem Wald. Jedes Produkt ist ein Baum, und Unternehmen sind Affen, die den Wald übernehmen und organisieren. Wir wissen, das Affen nicht fliegen können. Also springen sie zu den nächstgelegenen Bäumen – oder anders gesagt: zu Industrien, für die sie viele der geforderten Fertigkeiten mitbringen.

Hat man die Fertigkeiten, Regionaljets zu bauen, kann man sich auch an den Bau von Langstreckenflugzeugen machen. Stellt man nur Textilien her, dürfte dieser Schritt hingegen sehr schwer sein. Für Länder mit Wirtschaftswachstum gibt es eine Art „Himmelsleiter“ – eine Abfolge kurzer Sprünge, die sie immer weiter nach oben bringen.

TR: Wie kann eine solche Analyse einem Land helfen?

Hausmann: Stellen Sie sich ein Land vor, das Rohmaterialien exportiert. Bislang sagte man immer, das Land solle diese veredeln, Mehrwert schaffen. Wer also viel Wald hat, sollte versuchen, Papier oder Möbel zu exportieren statt Holz.

Der Produktraum spricht aber vielleicht dagegen. Finnland zum Beispiel entwickelte sich von einem Land, das Holz fällt, zu einem Land, das Maschinen für das Holzfällen produziert, dann Maschinen, die andere Sachen zerlegen können, und schließlich noch ganz andere Maschinen. Am Ende stand dann Nokia.

TR: Welche Möglichkeiten sehen Sie im Produktraum der USA?

Hausmann: Das Problem ist, dass die USA im Moment mit Niedriglohnländern konkurrieren. Oder in meiner Wald-Metapher: Die amerikanischen Affen müssen sich mit Affen aus anderen Ländern herumschlagen, wenn es um einfache Produkte geht. Die USA sollten also nach höheren Bäumen Ausschau halten. Derartige Bäume sind Pharmazeutik, Chemie und Maschinenbau. Es ist schwer, dahin zu kommen, und nur wenige Länder spielen hier mit.

Deshalb plädiere ich für eine langfristige Orientierung hin zur Maschinerie für die kommende Produktionsrevolution. Hier haben die USA Fertigkeiten wie nur wenige andere Länder, und das bringt am Ende Wachstum.

TR: Gibt es eine Technologie, die die Karten neue mischen kann?

Hausmann: Der 3D-Druck könnte die industrielle Dynamik verändern. Wobei ich 3D-Druck als Platzhalter für mehrere Trends benutze: kürzere Produktionszeiten, mehr Produktdesign, eine größe Nähe zum Markt. Das ist ein Paradigmenwechsel in der verarbeitenden Industrie.

Mit diesem Begriff assoziiert man gewöhnlich Fließbänder, an denen Tausende von Arbeitern stehen, Gewerkschaften wie die UAW (United Auto Workers) und sozialstaatliche Leistungen. Beim 3D-Druck reden wir hingegen von kleinen Produktionsmengen, die maßgefertigt und sehr nahe am Verbraucher sind. Das ist immer noch industrielle Produktion, aber mit anderen Jobs in anderen Unternehmen als heute. Wie das organisiert wird, wissen wir heute noch nicht.

TR: Werden dadurch in den USA neue Arbeitsplätze entstehen?

Hausmann: Eine Revolution in der Produktionstechnik beschleunigt immer die Entwicklung hin zu mehr Effizienz. Aus dieser Perspektive ist es nicht realistisch, dass die USA ihre Arbeitsmarktpolitik auf der verarbeitenden Industrie aufbauen können. Die ist nicht arbeitsintensiv.

TR: Was könnten die USA dann sinnvollerweise noch herstellen?

Hausmann: In Hinsicht auf den Produktraum sind die USA äußerst wettbewerbsfähig in der Landwirtschaft und deren Zulieferindustrien – also Landwirtschaftsmaschinen, Agrochemie, gentechnisch veränderte Pflanzen. In der Luftfahrt sind sie mit Boeing, General Electric, Northrop Grumman und Pratt & Whitney gut aufgestellt. In Informationstechnik und Internet führen sie den Weltmarkt an, in Medizintechnik und Pharmazeutik sind unter den besten. Neue Industrien entstehen oft aus einer Kombination von Fertigkeiten. Die Biotechnik etwa erweitert sich von der Medizin kommend hin zu Saatgut-Entwicklung und Schädlingsbekämpfung.

TR: Tun die USA genug für ihre Wettbewerbsfähigkeit?

Hausmann: Seit einiger Zeit schon konzentrieren sie sich deutlich weniger darauf als die meisten anderen Weltgegenden. Die Amerikaner denken, sie wären geborene Sieger, und wenn sie nicht gewinnen, glauben sie, jemand habe geschummelt. Dabei haben die USA viele hausgemachte Probleme: Die Infrastruktur ist inzwischen mies, die Unternehmenssteuersätze sind höher als in den meisten anderen Ländern. Das größte Problem ist jedoch die Einwanderungspolitik. Hochqualifizierte Menschen, die hier studieren, nicht zu halten und wieder fortgehen zu lassen, ist eine echte Katastrophe. (nbo)