Defizite bei der Behandlung von Computerspielesüchtigen

Die Erforschung der Computerspiele- und Internetsucht steckt noch in den Kinderschuhen. Einig sind sich die Experten aber, dass es schwere Krankheitsbilder in diesem Bereich gibt und dass eine Versorgungslücke existiert.

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Von
  • Stefan Krempl

Die Erforschung der Computerspiele- und Internetsucht, die inzwischen auch den Bundestag beschäftigt, steckt noch in den Kinderschuhen. Einig sind sich die Experten allein, dass es schwere Krankheitsbilder in diesem Bereich gibt und dass eine Versorgungslücke existiert. Dies zeigte sich beim Start der zweitägigen "ersten Berliner Mediensucht-Konferenz" (PDF-Datei) am gestrigen Freitag in der Hauptstadt. Einzelne Behandlungssysteme gebe es zwar bereits in der stationären Rehabilitation, erklärte Theo Wessel vom Gesamtverband Suchtkrankenhilfe GVS), der die Tagung gemeinsam mit dem Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität Mainz initiierte. Noch hätten sich aber keine Methoden im Kampf gegen den Drang zum exzessiven Computerspielen herauskristallisiert. Klar sei nur, dass man nicht sofort auf ein "Abstinenz- oder Kontrollparadigma" setzen dürfe. Wessels Resümee: "Wir haben noch viele Hausaufgaben zu machen."

Es gebe bislang keine deutliche Diagnose und eine Behandlung sei nur "unter widrigen Umständen" möglich, ergänzte Klaus Wölfling, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz. Die Konferenz diene vor allem dazu, Rahmenkriterien von süchtigem Verhalten im Computerspiele- und Internetbereich abzustecken. Auch der Austausch über therapeutische und präventive Behandlungsmethoden sowie über psychobiologische Grundlagen der "nicht-stoffgebundenen Süchte" stehe im Vordergrund. Deutlich geworden sei bereits, dass es einen Bedarf an neuartigen Behandlungs- und Beratungsstätten gebe.

Verschiedene Studien einer Forschungsgruppe rund um die kürzlich verstorbene und auf der Konferenz schwer vermisste Wissenschaftlerin Sabine Grüsser-Sinopoli deuten darauf hin, dass zwischen sechs und neun Prozent von rund 7000 untersuchten Jugendlichen und Erwachsenen die Kriterien einer Abhängigkeit bei ihrem Computerspieleverhalten erfüllen. Bei "Ballerspielen" sei aber keine Änderung der Aggressivitätswerte festzustellen gewesen, betonte Wölfling. Es seien keine kausalen Wirkungen nachweisbar, wenn es etwa um Verknüpfungen mit Amokläufen gehe. Etwa 85 bis 90 Prozent der Computerspielesüchtigen seien männlich, wobei Symptome etwa von 14 oder 15 Jahren an festgestellt worden seien. Da immer mehr "kommunikative Prozesse" in Spiele eingebaut würden, die auch das weibliche Geschlecht ansprächen, sei mit einer stärkeren Ausbalancierung dieses Verhältnisses zu rechnen.

Als "prädestinierende Faktoren" nannte Wölfling sowohl Umwelt- als auch Sozialisationsprobleme. Generell seien gerade Online-Rollenspiele aufgrund des eingebauten sozialen Zusammenhalts etwa über Gilden zunächst sehr interessant. Es würden emotionale Situationen durchgespielt, wobei Kontakte im virtuellen Bereich viel einfacher eingegangen werden könnten als in der physischen Welt. Die Spieler würden sich in eine künstliche Person mit ihren Vorstellungen und Wünschen einbringen, Verantwortung in einer Gruppe übernehmen und von ihrem Avatar abhängig werden. Schwierig sei es aber, derlei soziale Erfahrungen mit hinauszunehmen in den Alltag jenseits des Bildschirms. Hohes Suchtpotenzial würden zudem die Interaktivität und die Partizipation am motorischen und visuellen Geschehen insgesamt bergen.

Die medizinischen Folgen einer exzessiven Computernutzung beschrieb der Direkter der Mainzer Klinik, Manfred Beutel, auf verschiedenen Ebenen. Psychisch etwa würden bestimmte soziale Kontakte verkümmern; es seien Leistungseinbußen und Konzentrationsschwächen festzustellen. "Somatisch kommt es durch den Bewegungsmangel zu Übergewicht, auch bedingt durch den Schlafmangel'", erklärte der Professor weiter. Festzustellen seien ferner Störungen des Essverhaltens wie rasches Hinunterschlingen sowie Kopfschmerzen. "Der ganze Körper wird falsch belastet." Es könne sich ein Teufelskreis einstellen, in dem ein Wechsel zwischen oft mit lauter Musik im Hintergrund angeheizten Spannungs- und späteren Erschöpfungszuständen einen weiteren Drang zum Spielen auslöse. "Das geht hin bis zu völlig dehydrierten Menschen." Als Beispiel nannte Beutel einen 16-Jährigen, der dauernd über Kopfschmerzen geklagt habe und in eine Abwärtsspirale geraten sei. Erst spät sei entdeckt worden, "dass sein ganzes Leben aus dem Online-Spiel bestand" und die Probleme daher gerührt hätten.

Beutel und Wölfling wollen in Mainz nun eine Spielesuchtambulanz einrichten,die sich an die spezielle Klientel richtet. Bei dem Modellprojekt zum Schließen der Versorgungslücke planen sie, unter anderem mit Gruppentherapie zu experimentieren. Beutel drängt darüber hinaus auch auf klinische Studien, um das ausgemachte Suchtphänomen besser in den Griff zu bekommen. Wölfling monierte zugleich, dass niedergelassene Therapeuten nach wie vor Abrechnungsprobleme bei der Behandlung von Computerspielesüchtigen hätten. Er sprach von einer "gewissen Trägheit im Gesundheitssystem".

Tipps für Eltern, wie man eine Online- oder Spielesucht erkennen kann, haben die Ärzte zumindest bereits parat. Auffällig seien vor allem Änderungen im Sozialverhalten, meinte Beutel. Man sollte auch darauf achten, wie die Reaktion auf die Unterbrechung eines Spiels ausfalle. Wenn gemeinsame Mahlzeiten nicht mehr eingenommen würden und in der Kommunikation mit dem Kind eine allgemeine Gefühllosigkeit durchscheine, sollte man externe fachliche Beratung hinzuziehen, fügte Wölfling hinzu. Der Betroffene selbst "merkt es lange nicht, dann verdrängt er es", führte Jobst Böning von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) aus. Insgesamt würde der Süchtige seine Beziehungen außerhalb der virtuellen Welt stark einschränken, "die zur eigenen Körperlichkeit inbegriffen". (Stefan Krempl) (it)