Lesen im Blut

Allein mit einem Bluttest lassen sich Erbgutschäden schon weit vor der Geburt aufspüren. Er markiert den Beginn einer neuen Diagnostik-Ära.

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  • Edda Grabar

Allein mit einem Bluttest lassen sich Erbgutschäden schon weit vor der Geburt aufspüren. Er markiert den Beginn einer neuen Diagnostik-Ära.

Der Stichtag fiel auf den 20. August 2012: An diesem sommerlichen Montag erreichte ein neuer vorgeburtlicher Test Untersuchungszentren und Kliniken in Deutschland. Er erkennt bereits ab der 16. Schwangerschaftswoche, ob ein ungeborenes Kind an einem Down-Syndrom leidet, einer Chromosomen-Anomalie, die zu körperlichen und geistigen Behinderungen führt. Wollten Frauen mit einem erhöhten Risiko, wozu vor allem die Gruppe der über 35-Jährigen zählt, Gewissheit, hatten sie bislang nur eine Wahl: die Fruchtwasseruntersuchung. Die aber ist riskant. In ein bis drei Prozent der Fälle löst sie eine Fehlgeburt aus, und das, was als Routinediagnostik gewollt war, endet in einem Drama. Der Test hinge-gen liefert die Antwort ohne jede Gefahr für Mutter und Kind. Trotzdem löste er in seinem Vorfeld eine heftige ethische Debatte aus.

Er ist aber nur der Anfang einer völlig neuen Ära der Diagnostik. Weltweit arbeiten Forscher derzeit daran, Fehler im Erbgut aufzuspüren. Sie suchen nicht nur nach weiteren Leiden von Ungeborenen, sondern auch nach Frühzeichen gefährlicher Erkrankungen im Erwachsenenalter – darunter Tochtergeschwülste von Krebs. Und das alles in nur 20 Millilitern Blut.

Dort nämlich hinterlässt der Mensch seine intimsten Spuren. Kleine, vereinzelte Erbgut-Bruchstücke aus abgebauten oder zerstörten Zellen schwimmen in großen Mengen in den Adern umher. Finden sich Veränderungen in der DNA, lässt sich so auf mögliche Krankheiten schließen.

Auch ein Ungeborenes gibt sich über diesen Weg bereits wenige Wochen nach seiner Zeugung preis. Durchschnittlich zehn Prozent der im Blut einer werdenden Mutter enthaltenen DNA-Schnipsel gehören zu ihm. Sie stammen aus abgestorbenen Zellen der Plazenta und werden während der gesamten Schwangerschaft in den mütterlichen Blutkreislauf abgegeben. Fängt man diese DNA-Schnipsel ein, entlocken ihnen Hochleistungs-Decodierer ihre Geheimnisse.

Zunächst ermitteln sie, zu welchem der menschlichen Chromosomen die Erbgutfragmente gehören. Als Vorlage dient das bereits entschlüsselte menschliche Erbgut. Anschließend ermittelt ein Algorithmus die Mengenverhältnisse der Chromosom-21-Schnipsel. Denn genau die unterscheidet gesunde Kinder von solchen mit Down-Syndrom, deren Chromosomensatz drei statt der üblichen zwei Chromosomen enthält (Trisomie 21). Liegen in der Probe einer Schwangeren zum Beispiel 100 Bruchstücke des Chromosoms 21 vor, würden normalerweise – rein statistisch – 90 davon auf die Mutter und 10 auf den Fötus zurückgehen. Leidet das Kind jedoch am Down-Syndrom, steigt die Zahl der Chromosomenschnipsel des Fötus auf 15. Die Konstanzer Firma LifeCodexx, die den pränatalen Bluttest anbietet, gibt an, bereits einen Unterschied von 1:1,05 zuverlässig nachweisen zu können. "Uns reichen schon sehr kurze DNA-Fragmente aus nur 36 Bausteinen, damit die Maschinen sie dem richtigen Chromosom zuordnen", erklärt Elke Decker, Unternehmenssprecherin bei LifeCodexx.

Hundertprozentig sicher ist der Test allerdings nicht – wie LifeCodexx selbst zugibt. Laut einer Studie, die im April 2012 auf der Tübinger Pränatal-Tagung vorgestellt wurde, konnte er in fünf von 100 Fällen die Trisomie 21 nicht erkennen. Und in fünf von 1000 Fällen wurde ein gesundes Kind als krank diagnostiziert. Hinzu kommt, dass der Test bestimmte Formen der Trisomie nicht sicher erkennen kann – etwa die sogenannte Mosaik-Trisomie. Sie entsteht erst nach der Befruchtung. Als Folge enthält nicht jede Körperzelle des Fötus den anormalen Dreiersatz des 21. Chromosoms. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass immerhin knapp ein Drittel aller Down-Syndrom-Fälle auf solche Mosaik-Trisomien zurückgehen.

Die Konstanzer Firma arbeitet deshalb jetzt mit chemisch behandelten Teströhrchen, in denen sich die durchschnittliche Überlebenszeit der Erbgut-Fragmente erhöht. Verzögert sich der Abbau, der normalerweise nach spätestens zwei Stunden beginnt, steigt die Zahl der auszuwertenden Fragmente – und damit die Genauigkeit des Tests. LifeCodexx will der US-Firma Sequenom aus San Diego nacheifern, die bereits seit einem Jahr einen pränatalen Bluttest anbietet. "MarterniT21 Plus" arbeitet mit anderen Algorithmen und soll mit 99,9-prozentiger Sicherheit das Down-Syndrom diagnostizieren können.

In den USA ist man bereits einen Schritt weiter und fahndet nicht mehr nur nach der Trisomie 21. So spürt MarterniT21 Plus auch die Trisomien 13 und 18 auf, die ebenfalls zu schweren Behinderungen führen. "Das ist nur konsequent, will der Test den bislang üblichen Fruchtwasseruntersuchungen standhalten", urteilt der Humangenetiker Karsten Haug von der Praxisgemeinschaft Pränatal in Düsseldorf, die den Bluttest anbietet.

Die Pläne der Wissenschaftler gehen jedoch weit über das Entdecken überzähliger Chromosomen hinaus: Sie suchen im Blut nach den viel diffiziler aufzuspürenden Fehlern in einzelnen Genen. Denn auch die führen in vielen Fällen zu schweren Krankheiten. So identifizierte der chinesische Pathologe Dennis Lo von der Chinese University of Hongkong bereits 2010 im Blut einer werdenden Mutter den Genfehler, der die schwere Blutkrankheit Beta-Thalassämie verursacht. Dabei dechiffrierte Lo, der auch der geistige Vater des Down-Syndrom-Bluttests ist und vor 15 Jahren erstmals DNA-Fragmente eines Fötus im Blut der Mutter nachwies, quasi als Nebenprodukt das gesamte Genom des Kindes. Experten schätzen, dass in einigen Jahren solche Genanalysen für weniger als 500 Euro angeboten werden. "Über kurz oder lang werden wir wohl alle Erbkrankheiten, die sich derzeit durch Fruchtwasseruntersuchungen analysieren lassen, durch einen Bluttest nachweisen können", glaubt Haug. Das sind derzeit immerhin etwa 700. Darunter fallen Krankheiten wie Mukoviszidose, bei der über Jahre hinweg die Lungen der Patienten verschleimen, das Fragiles-X-Syndrom, die häufigste geistige Behinderung von Jungen, oder die Huntington-Krankheit, bei der Nervenzellen zersetzt werden.

Tatsächlich verfeinerten bereits im Sommer dieses Jahres zwei US-Forschergruppen Los Entwicklung. Dank verbesserter statistischer Verfahren benötigten Stephen Quake und seine Kollegen von der University of Stanford – im Unterschied zu Lo – nur das mütterliche Blut, nicht auch das des Vaters. Zudem fahndeten sie nicht allein nach Erbfehlern, sondern waren auch Stoffwechsel- und Immunkrankheiten wie der Phenylketonurie auf der Spur. Werden Leiden wie diese nicht sofort nach der Geburt erkannt und behandelt, führen sie zu schweren geistigen Beeinträchtigungen. Britische und US-Forscher haben im Oktober zwar einen schnellen Sequenziertest vorgestellt, der aus der DNA in einem Tropfen Babyblut in nur zwei Tagen – bedeutend rascher als bisherige Labortests – den Erbfehler für Phenylketonurie herausliest. Doch mit einem vorgeburtlichen Test aus dem Blut der Mutter, das dem Neugeborenen die schmerzhafte Blutabnahme erspart, wird er wohl auf Dauer kaum konkurrieren können.

Für den Pionier Dennis Lo steckt in DNA- Bluttests jedoch noch ein weit größeres Potenzial. In Zukunft, so glaubt er, könne man auch erbliche Veranlagungen, etwa für Herzfehler, überprüfen und sie durch einen Ultraschall abgleichen, um sie so schnell wie möglich noch im Mutterleib oder direkt nach der Geburt behandeln zu können. "Künftig", sagt Lo, "werden auch andere versteckte Leiden wie Krebs im Blut nachzuweisen sein."

An Los Visionen wird in Hamburg-Eppendorf bereits gearbeitet. In dem Biotech-Unternehmen Inostics forschen Wissenschaftler nach Spuren auf Krebserkrankungen im Blut. Denn auch Tumore hinterlassen ihre genetischen Fingerabdrücke als DNA-Fragmente in den Adern. "Allerdings in sehr viel geringeren Mengen als ein Fötus", erklärt Frank Diehl, Mitbegründer von Inostics. Der Nachweis gleicht daher der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Selbst wenn ein Tumor bereits mehrere Zentimeter groß ist, stammen von ihm durchschnittlich nur weniger als ein Prozent aller im Blut schwimmenden DNA-Moleküle – deutlich weniger als die DNA-Fragmente, die Ungeborene im Blut der Mutter hinterlassen.

Dafür bedient sich Inostics eines ausgeklügelten Verfahrens. In einer dünnen Ölschicht schwimmen Tausende mikroskopisch kleine, magnetisch aufgeladene Wassertröpfchen, sogenannte Beads. In jedem verbirgt sich eine Art DNA- Kopierstation. Sie fängt jeweils einen DNA-Schnipsel auf und vervielfacht ihn hunderttausendfach – so lange, bis ausreichende Mengen vorliegen, um sie auf genetische Veränderungen zu untersuchen. So finden die Forscher auch jene Mutationen, die gesunde Zellen entarten lassen: Genfehler, die bewirken, dass Wachstumssignale die Zelle zur ungehemmten Vermehrung drängen und der natürliche Zelltod hinausgezögert wird.

In neun Veröffentlichungen allein in diesem Jahr zeigten Wissenschaftler aus Deutschland, Amerika und Italien, dass der Test sowohl die Bildung von Tochtergeschwüren als auch sich entwickelnde Resistenzen gegen Krebsmedikamente sicher erkennt. Mehr noch: "Der Test entdeckt einen Rückfall bereits, bevor die Tumore bei Kontrolluntersuchungen sichtbar werden", so Diehl von Inostics. Bis heute können die Hamburger 136 Mutationen in 16 krebsauslösenden Genen entdecken. Ende des Jahres, hofft Diehl, wird sein Test als anerkanntes Verfahren in den USA zur Verfügung stehen. Danach ist die Markteinführung in Deutschland geplant. ()