Bausatz für Organe

Erst ausziehen, dann neu einkleiden – so behandelt, werden Transplantationsorgane vom Körper akzeptiert.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Sascha Karberg

Erst ausziehen, dann neu einkleiden – so behandelt, werden Transplantationsorgane vom Körper akzeptiert.

Täglich sterben in Deutschland etwa drei Menschen, weil sie nicht rechtzeitig ein Spenderorgan bekommen. Aber einige der glücklichen Organempfänger kämpfen auch nach der Transplantation mit dem Tod, weil ihr Immunsystem das fremde Organ nicht akzeptiert. Zumindest aber müssen sie – meist lebenslang – Medikamente mit starken Nebenwirkungen einnehmen, um die Abwehr zu unterdrücken.

Der Mediziner Philipp Jungebluth bastelt deshalb an künstlichen Gerüsten für menschliche Organe als Teil eines europäischen Forscherteams unter der Leitung von Paolo Macchiarini am Karolinska-Institut im schwedischen Stockholm. Wenn die Wissenschaftler diese Kunstgebilde mit einer Hülle von Zellen des jeweiligen Patienten umgeben, können sie die sonst unvermeidbare Abstoßungsreaktion umgehen.

Mit diesem Trick machen die Forscher derzeit entscheidende Fortschritte in der Transplantationsmedizin. Allerdings wäre die Erfolgsstory beinahe gescheitert, bevor das erste Kapitel überhaupt geschrieben war – an der Sturheit eines Piloten der Billig-Airline easyJet: 2008 soll Jungebluth, damals noch an der medizinischen Hochschule Hannover, aus dem englischen Bristol ganz besondere Zellen abholen. An der dortigen Universität sind sie in mühsamer, wochenlanger Arbeit aus den Knochenmarkstammzellen einer Tuberkulose-Patientin gezüchtet worden. Die Zellen werden dringend gebraucht, um daraus ein Stück Luftröhre heranzuziehen, sonst verliert die Frau einen ganzen Lungenflügel.

In den Wochen zuvor haben die Forscher die Luftröhre eines Organspenders sozusagen einer "Striptease-Methode" unterzogen: Jegliche Zellen werden so lange aus dem Organ gewaschen, bis nur noch ein weißliches Gerüst übrig bleibt – bestehend aus der knorpelartigen Substanz zwischen den Zellen, der sogenannten extrazellulären Matrix. Dieses Gerippe sollen die Zellen aus Bristol jetzt neu besiedeln. Funktioniert das Experiment, wird die Luftröhre vom Immunsystem der Patientin nicht mehr als fremdes Gewebe erkannt und toleriert. So der Plan.

Doch Jungebluth darf die Zellsuppe nicht mit an Bord des Fliegers nehmen. Sie überschreitet die zulässige Flüssigkeitsmenge im Handgepäck von 100 Millilitern. "Wir hatten vorher alles mit der Fluggesellschaft abgesprochen", erzählt Jungebluth, doch der Pilot habe sich geweigert. Geistesgegenwärtig alarmiert der Mediziner einen Freund bei einem deutschen Unternehmen für Privatflüge. Der schickt sofort eine Maschine nach Bristol, die Jungebluth mit seinem wertvollen Gepäck noch am selben Tag nach Hannover bringt. Die Patientin kann rechtzeitig behandelt werden und muss bis heute keine Medikamente nehmen. Ihr Körper akzeptiert die fremde Luftröhre. Seitdem haben Jungebluth und Macchiarini bereits Dutzenden von Patienten mit dem Verfahren helfen können.

Das Problem der raren Spenderorgane lässt sich damit allerdings nicht umgehen, da das Gerüst für die künstlichen Luftröhren oder Bronchien nach wie vor von einem menschlichen, wenn auch "gestrippten" Organ stammt. Deshalb experimentiert Jungebluth seit rund anderthalb Jahren mit synthetischen Grundgerüsten. "Wir verwenden das gleiche PET-Polymer, das man aus den Cola-Plastikflaschen kennt", sagt der Forscher. Allerdings werde es zu ganz feinen, spinnenwebartigen Nano-Strukturen verarbeitet. Mathematiker und Ingenieure helfen bei der Entwicklung möglichst naturgetreuer Anordnungen, die den Zellen vertraut sind. Nur so können diese in das Gerüst einwandern, anhaften und korrekt differenzieren. Im Juni 2011 behandelten Macchiarini und Jungebluth zum ersten Mal einen 36-jährigen Lungentumor-Patienten mit solch einem künstlichen Bronchienstück. Sie hatten es vorher in einem Bioreaktor mit Stammzellen aus dem Knochenmark des Kranken besiedelt.

Vier weitere Patienten folgten seitdem. Es funktioniere, so Jungebluth, "mindestens genauso gut" wie bei Luftröhren mit einem Innengerüst natürlichen Ursprungs. Die Vorteile eines synthetischen Bronchiengerüsts seien, dass man die Prothese genau an die Maße und Besonderheiten des Patienten anpassen könne. "Außerdem hat man bei vielen Patienten einfach nicht die Zeit, um auf das natürliche Spendermaterial zu warten."

Langfristig stellt sich Jungebluth auch Luftröhrenstücke aus biologisch abbaubarem Material als mögliche Variante vor. Die könnten dann im Körper des Patienten nach und nach von dessen Zellen ersetzt werden. Doch bislang scheuen die Ärzte das Risiko, dass Löcher entstehen, falls sich das natürliche Gewebe nicht schnell genug entwickelt.

So elegant das Züchten von Organen im Labor auch klingen mag, so groß ist der logistische und finanzielle Aufwand für die Reinraumlabors und Fachkräfte. Denn die Zellen müssen ständig vor Viren- und Bakterienbefall geschützt werden. Vielleicht hat auch Jungebluths Flughafen-Abenteuer dazu beigetragen, dass der Mediziner einen Weg gesucht – und gefunden – hat, den Transport von Zellen und das Hantieren mit Kulturlösungen weitestgehend zu minimieren: Er baut das von Zellen befreite Luftröhren-Gerüst direkt an der benötigten Stelle in den Körper ein, impft es mit Wachstumsfaktoren und körpereigenen Zellen an und näht dann wieder zu – ohne langwierige, riskante Zellbesiedlung im Labor. "Im Körper ist alles, was wir im Labor künstlich hinzugeben müssten, schon vorhanden", sagt Jungebluth. Bei neun Schweinen hat das Konzept schon funktioniert: Nach 60 Tagen Regeneration waren die sechs Zentimeter langen Luftröhren-Gerüste von natürlichen Organen kaum zu unterscheiden.

Dass sich das Verfahren auch in der Klinik bewähren könnte, legen die Erfahrungen der Kollegen Jungebluths von der Medizinischen Hochschule Hannover nahe. Dort werden dezellularisierte menschliche Herzklappen in das Herz des Empfängers implantiert. Der Körper des Patienten besiedelt die Klappen dann ganz von selbst, sodass sie "wieder leben und das Potenzial zum Mitwachsen haben", erklärt Andreas Hilfiker, der den Bereich Tissue Engineering an den Leibniz Laboratorien für Biotechnologie und künstliche Organe (Lebao) leitet. "Wir haben bereits mehr als 70 Patienten behandelt, vor allem Kinder und Jugendliche, und im Rahmen einer bereits bewilligten EU-Studie werden es bald viel mehr sein."

Nach wie vor bleibt allerdings das Grundproblem bestehen: Um menschliche Spender kommt auch Hilfiker nicht herum. An Kunststoffklappen werde seit mehr als 17 Jahren erfolglos gearbeitet. Hilfiker zufolge seien tierische Spender bisher keine Alternative: "Schlecht dezellularisierte Herzklappen vom Schwein haben zu katastrophalen Abstoßungsreaktionen geführt." Der Arzt hofft nun, das Problem durch gentechnisch veränderte Schweine lösen zu können. Auf deren Zellen fehlt das Zuckermolekül Alphagalaktose, das für die starke Abstoßungsreaktion verantwortlich ist. Erste Erfolge gibt es bereits: Nach Brustoperationen bei Frauen oder bei Patienten mit defekter Bauchdecke wurde Schweinehaut eingesetzt, die von der US-Firma KCI Lifecell sowohl gestrippt als auch chemisch von Alphagalaktose befreit werden. Nach der Operation besiedeln dann körpereigene Zellen das Schweinegerüst.

Trotz allem ist es aber bis jetzt nicht gelungen, die Sterberate der vergeblich auf Spenderorgane wartenden Menschen deutlich zu senken. "Die Verfahren sind noch zu aufwendig, um damit viele Patienten zu behandeln", erklärt Jungebluth. Aber "der Organspendermangel ist so groß, dass man einfach neue Wege gehen muss. Und Tissue Engineering hat das Potenzial, diesen Mangel auszugleichen." (bsc)