Starten mit Strom

Elektrische Spannung bringt Querschnittsgelähmte wieder auf die Beine, vorausgesetzt, ihr Rückenmark ist nicht vollkommen durchtrennt.

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Von
  • Nike Heinen

Elektrische Spannung bringt Querschnittsgelähmte wieder auf die Beine, vorausgesetzt, ihr Rückenmark ist nicht vollkommen durchtrennt.

Beide Füße sind auf dem Boden. Die Beine durchgestreckt, der Oberkörper aufgerichtet. Dann lassen die Helfer die Arme des Mannes los, und er steht. Ganz allein, für einen kurzen Moment. Obwohl Rob Summers nach kurzer Zeit zusammensackt, muss er grinsen. "Der Anfang", glaubt er, "meines neuen Lebens."

Nach einem Autounfall im Alter von 20 Jahren ist der ehemalige Profi-Baseballspieler vom Bauch abwärts gelähmt. Manche Berührungen spürt er noch, aber die Beine selbst bewegen, das kann er nicht mehr. Selbst dann, wenn sie jemand für ihn aufstellt, würden sie ihn nicht tragen, weil die Steuersignale aus dem Gehirn fehlen. Jetzt aber kann der Patient wieder allein stehen – ein zuvor unerreichbarer Erfolg.

Summers verdankt ihn einem ganz neuen Rehabilitationsverfahren, bei dem Bewegungstraining mit elektrischen Stimulationen kombiniert wird. Entwickelt hat die komplizierte, mehrstufige Behandlung Summers' Ärztin Susan Harkema, die als Neurochirurgin am Frazier Rehab Institute in Louisville/Kentucky arbeitet. Zunächst ließ sie ihren Patienten zwei Jahre lang zusammen mit Physiotherapeuten ein sogenanntes Lokomotor-Training absolvieren: Dabei bewegen die Therapeuten den Gelähmten, während ein Gurt dessen Körper in aufrechter Position hält.

Als Summers' Muskeln in den Beinen wieder einigermaßen aufgebaut waren, implantierte Harkema ihm im Bereich der verletzten Lendenwirbelsäule 16 Elektroden direkt auf die das Rückenmark umgebende Haut. Dieser Stimulator wurde mit exakt dem Impulsmuster bespielt, das normalerweise bei intaktem Rückenmark in der entsprechenden Region zu messen ist. Er funktioniert autark, ähnlich wie ein Herzschrittmacher.

"Das Ergebnis war überwältigend", sagt Harkema. Schon in der ersten Woche konnte Rob mit Unterstützung der Krankengymnasten wieder stehen." Am Ende der Woche stand Harkemas Patient dann zum ersten Mal ohne jede Hilfe. Das war 2011. Inzwischen schafft er schon eineinhalb Stunden, mit zitternden Beinen zwar, aber sie halten. Mehr noch: Summers kann sogar wieder gehen – zumindest auf dem Ergometer.

Für diese Leistung ist wahrscheinlich weniger Summers' Willenskraft entscheidend, als die erstaunliche Wandlungsfähigkeit der Schaltkreise in seinem Rückenmark: Das sind kurze Verbindungen vom Muskel in eine Nervenzelle des Rückenmarks und zurück. Die Zelle ist dabei die einzige Schaltstelle. Der lange Umweg ins Gehirn, der Empfindungen aus den Beinen ins Bewegungszentrum leitet und Korrekturbefehle zurück, entfällt. Solche Kurzschlüsse steuern Reflexe, unbewusste, blitzschnelle Bewegungsreaktionen. Stolpert ein Wanderer etwa, lassen sie ein Bein vorschnellen. Ehe er noch den Stein im Weg registriert, steht er schon wieder fest auf dem Boden.

Auch bei anderen Bewegungskorrekturen sind Rückenmarkszellen die Steuerzentralen – und offenbar können sie nach einiger Zeit und mit zusätzlichem elektrischen Ansporn sogar lernen, die ganze Beinbewegung allein zu steuern. "Entweder werden da versteckte Rückenmarksschaltkreise wieder aktiviert oder neue geschaffen", sagt Harkema.

Besonders beeindruckend empfand sie, dass Summers nach sieben Monaten Bewegungstherapie auch wieder seinen Urin bei sich behalten und sogar Sex haben konnte. "Vielleicht hat die verstärkte Stimulation eine Signalkette in Gang gesetzt, die neue Nervenzellverbindungen sprießen ließ." Bei Summers allerdings waren drei wesentliche Voraussetzungen für das Gelingen des Versuchs erfüllt: Er war vor dem Unfall gut trainiert, und er wurde danach sofort behandelt, was weitere Schäden vermied. Vor allem aber hatte die Verletzung nicht sämtliche Verbindungen zwischen Beinen und Gehirn zerstört.

Aber welche Optionen gibt es, wenn ein Patient vollkommen querschnittsgelähmt ist? Das möchte Grégoire Courtine herausfinden. Der Mathematiker leitet am Lausanner Polytechnikum eine Arbeitsgruppe zu Neuroprothetik und machte im vergangenen Sommer Furore, weil in seinem Labor gelähmte Ratten wieder laufen lernten. Dazu hatten die Wissenschaftler zunächst das Rückenmark der Ratten unterhalb der Brustwirbelsäule durchtrennt. Anschließend wurden die Nervenzellen – ähnlich wie Summers' Rückenmark – elektrischen Stimulationen ausgesetzt.

Der Clou im Lausanner Versuch allerdings war, dass der im Hüftbereich der Wirbelsäule implantierte elektrische Stimulator sie zusätzlich pharmakologisch in empfangsbereiten Zustand versetzte. Das Gerät enthält eine winzig kleine Injektionseinheit, die einen Cocktail aus sogenannten Monoaminen abgibt. Der ist chemisch eng verwandt mit den Nervenbotenstoffen Adrenalin und Dopamin, die normalerweise die Nervenzellen in Hab-Acht-Stellung halten und die elektrische Erregung weiterleiten. Kommen jedoch keine elektrischen Aktionspotenziale aus dem Gehirn mehr an, verebbt als Folge auch die Flut der Botenstoffe. Die Monoamine binden nun an dieselben Rezeptoren wie die natürlichen Botenstoffe und versetzen die stillgelegten Rückenmarkszellen der Ratten erfolgreich in den natürlichen Erregungszustand zurück.

Nachdem sie die Ratten mehrere Wochen auf einem Laufband trainiert hatten, beobachteten die Forscher ein so massives Nervenwachstum wie nie zuvor. Anders als Harkemas Patient kontrollierten die Nagetiere ihre Hinterpfoten nach einiger Zeit wieder ganz bewusst: Denn bei Courtines Versuchsaufbau bildeten sich sogar über die verletzungsbedingte Lücke im Rückenmark hinweg neue Nervenverbindungen.

Leider sind querschnittsgelähmte Ratten jedoch schlechte Modelle für mögliche Behandlungen bei Menschen: Ursprüngliche Säugetiere wie sie beteiligen ihr vergleichsweise kleines Gehirn nur teilweise an der Bewegungskoordination, bei Primaten hingegen übernimmt das hochkomplexe Organ insbesondere bei der Feinkoordination den größten Teil der Arbeit.

Vom großen Ziel, komplett durchtrenntes Rückenmark zu reparieren, sind die Wissenschaftler also noch immer weit entfernt. Doch zeigt Summers' Fall möglicherweise ganz neue Wege für die Behandlung von Querschnittsgelähmten auf. In Reaktion auf Harkemas Pilotstudie untersuchen Forscher in Wien und im schweizerischen Balgrist, ob die Elektrostimulation auch nichtinvasiv funktioniert: mit Elektroden, die auf der Haut platziert werden.

"Es ist noch nicht klar, inwiefern unsere Ergebnisse auf andere Patienten übertragbar sind", sagt Harkema. Je älter die Verletzung, desto unwahrscheinlicher sei die Regeneration der Nerven. Und vermutlich funktioniert das Verfahren auch nur, wenn ein Teil der Nervenverbindung erhalten geblieben ist. Das betrifft jedoch, zumindest in den USA, immerhin 60 Prozent aller Querschnittspatienten. Und dank besserer Erstversorgung behalten immer mehr Unfallopfer ein paar unzerstörte Fasern zurück – vielleicht können wenigstens einige von ihnen schon bald wieder auf die Beine gebracht werden. (bsc)