Industrie 4.0 zum Anfassen

Auf der Hannover Messe redet nahezu jeder irgendwann über Industrie 4.0 oder Smart Factory – doch was ist das überhaupt? Ein Besuch am Stand des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) klärt auf.

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Von
  • Peter-Michael Ziegler

Die SmartFactoryKL des DFKI umfasst vier Arbeitsstationen. Ein RFID-Transponder teilt den Maschinen dabei jeweils mit, wie das Werkstück zu bearbeiten ist.

Nahezu jeder redet auf der Hannover Messe irgendwann über "Integrated Industry", "Industrie 4.0" oder "Smart Factory" – doch was ist das überhaupt? Und handelt es sich dabei tatsächlich um die häufig zitierte "4. industrielle Revolution" – nach der Einführung mechanischer Produktionsanlagen zum Ende des 18. Jahrhunderts, der aufkommenden Massenproduktion von Gütern mit Hilfe von elektrischer Energie im 20. Jahrhundert und der dritten industriellen Revolution, unter der man den verstärkten Einsatz von Elektronik und Informationstechnologie in Produktionsprozessen versteht? Oder ist Industrie 4.0 nicht vielleicht doch nur eine zwangsläufige Evolutionsstufe in der fortschreitenden Digitalisierung unserer Welt?

Wie man sich "Industrie 4.0" mit ihren intelligenten Fabriken künftig vorzustellen hat, zeigt unter anderem das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Halle 8 (Stand D20). Aufgebaut ist dort eine "Smart Factory" im Kleinformat, die aber trotzdem alle zentralen Aspekte der Fertigungszukunft aufweist: Produkte, die über eine gewisse Eigenintelligenz sowie Kommunikationsfähigkeiten verfügen. Maschinen, die als sogenannte Cyber-Physical Production Systems (CPPS) über offene Netze und semantische Beschreibungen in einem Automatisierungsnetzwerk mit anderen Geräten kommunizieren können. Augmented-Reality-Lösungen, die Mitarbeiter zusätzlich mit kontextsensitiven Informationen versorgen.

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Demonstriert wird das Konzept am Beispiel einer vierteiligen Produktionslinie, bei der Komponenten einer LED-Taschenlampe zunächst kundenspezifisch gefertigt und anschließend zusammengesetzt werden. Liegt ein Produktionsauftrag vor, werden die Daten zunächst über das M2M-Kommunikationsprotokoll OPC-UA an die Steuerung einer Kommissionierstation übertragen und dort auf einen RFID-Transponder geschrieben, den das zu bearbeitende Werkstück (in diesem Fall ein Gehäusedeckel mit individualisierter Gravur) während des ganzen Produktionsprozesses trägt. Ausgestattet mit einem solchen "digitalen Produktgedächtnis" ist das Werkstück jetzt in der Lage, einer Frässtation selbst mitzuteilen, dass für die Gravur der Eintrag "CT" vorgesehen ist.

Digi-Connect-Module mit Linux-Betriebssystem und Webserver werden für die Anlagenkommunikation genutzt.

An der automatisierten Montagestation teilt das Werkstück der Maschine wiederum mit, welche der vorhandenen Presstechniken genutzt werden soll, um die Einzelteile miteinander zu verbinden. Alternativ kann am Handarbeitsplatz aber auch eine manuelle Montage erfolgen. Dort führt eine Tablet-PC-App den Arbeiter dann mit 3D-Animationen durch die einzelnen Arbeitsschritte und macht ihn so zum "Augmented Operator". Deutlich wird an der "Smart FactoryKL" des DFKI, dass viele Komponenten der "Industrie 4.0" heute schon zur Verfügung stehen. Während aber etwa RFID- und Automatisierungstechniken bereits ausgereift sind, sehen Spezialisten wie der DFKI-Wissenschaftler für Innovative Fabriksysteme (IFS), Matthias Loskyll, vor allem bei der webbasierten Steuerung verteilter Produktionsanlagen noch Forschung- und Entwicklungsbedarf.

"Bei der SmartFactoryKL verwenden wir für die Kommunikation der einzelnen Anlagenteile Digi-Connect-Module mit Linux-Betriebssystem, auf denen ein Webserver läuft", erklärt Loskyll im Gespräch mit c't. "Allerdings gehe ich davon aus, dass bis zur Marktreife neuer Anlagen, die solche webbasierten Lösungen für verteilte Steuerungsaufgaben nutzen, noch fünf Jahre vergehen." Ein Problem stellt insbesondere die Angreifbarkeit internetbasierter Kommunikationstechniken dar: Über eingeschleuste Trojaner und Würmer droht der Abzug von Betriebsgeheimnissen, aus der Ferne aktivierte Malware könnte Toleranzen von Fertigungsprozessen bei Wettbewerbern gezielt manipulieren oder komplette Produktionsstraßen lahmlegen. Der durch Produktpiraterie verursachte Schaden belief sich nach Zahlen des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) allein im vergangenen Jahr für deutsche Firmen auf 7,9 Milliarden Euro – und Stuxnet & Co. lassen ebenfalls immer wieder grüßen.

Am Handarbeitsplatz unterstützt eine Tablet-PC-App den Arbeiter mit 3D-Animationen und macht ihn so zum "Augmented Operator".

Auch für Dr. Siegfried Russwurm, CEO des Siemens-Sektors Industry, ist die Vision der Industrie 4.0 weniger ein Szenario für morgen, sondern eher für übermorgen. "Maschinen, die kommunizieren, gibt es schon, die können Sie kaufen. Aber was sollen sich die Maschinen untereinander genau mitteilen?" Hier herrsche noch großer Klärungs- und Entwicklungsbedarf, verdeutlichte Russwurm bei der Pressekonferenz des Siemens-Konzerns im Convention Center (CC). Den Menschen sieht der Sparten-Chef weiterhin als unerlässlich an – etwa beim Entwurf und der Gestaltung von Produkten, bei der Festlegung von Produktionsregeln und Zielgrößen, bei der Entscheidung von optimalen Produktionsabläufen sowie deren Überwachung.

Als ein Journalist allerdings fragte, wo denn in der Industrie 4.0 Platz für ungelernte oder angelernte Mitarbeiter sei, antwortete Russwurm knapp: "Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, für das die Industrie keine Lösung hat." Bei Siemens jedenfalls sei in den vergangenen vier Jahrzehnten die Zahl der ungelernten und angelernten Mitarbeiter von rund 110.000 auf 10.000 gefallen, während im selben Zeitraum die Zahl der Facharbeiter konstant geblieben sei und sich die Zahl der Akademiker in etwa verdoppelt habe. Was wiederum die Frage aufwirft, wer letztlich von den rund 30 Prozent Produktivitätssteigerung profitieren wird, die das Konzept der Industrie 4.0 laut ihren Protagonisten bringen soll. In den Reden der Politik- und Wirtschaftsgrößen zur Eröffnung der Hannover Messe 2013 war immer wieder von einer "Steigerung des Wohlstands" die Rede – zu den Profiteuren werden aber mit Sicherheit nicht alle Bürger gehören.

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Mehr Aktuelles von der Hannover Messe und zur Fabrik der Zukunft finden Sie in einem Special von Technology Review. (pmz)