Die Wahrheit im Netz

Die Plattform Verily will mittels Crowdsourcing Medien und Hilfsorganisationen helfen, nicht auf Falschinformationen in sozialen Medien hereinzufallen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 7 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • David Talbot

Die Plattform Verily will mittels Crowdsourcing Medien und Hilfsorganisationen helfen, nicht auf Falschinformationen in sozialen Medien hereinzufallen.

Mit der Weisheit der Menge ist es nicht immer so weit her, wie Bewunderer von sozialen Medien glauben. Ganz im Gegenteil: Wie auf Online-Diensten wie Twitter und Reddit nach den Anschlägen von Boston vermeintlich Verdächtige der Öffentlichkeit vorgeführt wurden, hatte schon den Beigeschmack eines Lynchmobs. Wie kann man solchen Unsinn aus dem Nebel der Dauermitteilungen bloß herausfiltern? Vielleicht mit der Plattform Verily, die Ingenieure des Masdar Institute of Technology und des Qatar Computing Research Institute entwickelt haben.

Verily soll Informationen aus sozialen Medien verifizieren. Dabei verlässt sich die Plattform, die sich derzeit in der Beta-Phase befindet, nicht allein auf Algorithmen. Menschliche Intelligenz soll helfen, die Spreu vom Weizen trennen. Als Anreizsystem werden erfolgreichen Nutzern Punkte, so genannte Dings, vergeben.

Mit Verily wäre Sunil Tripathi möglicherweise gar nicht erst ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Weil der Student der Brown University längere Zeit verschwunden war, präsentierte ihn ein Nutzer von Reddit als Verdächtigen, und in Windeseile verbreitetete sich die Behauptung über Twitter. Auch Medien griffen sie auf. „Die Berichterstattung um die Bostoner Anschläge hat gezeigt, dass die Mainstream-Medien ein ganz großes Problem mit der Verifizierung haben“, sagt Ethan Zuckerman, Direktor des Center for Civic Media am MIT. „Das grundlegende, schon ein wenig furchterregende Problem ist, dass Menschen einfach Informationen verbreiten wollen, egal ob sie richtig oder falsch sind.“ Reddit selbst bereut die "Hexenjagd" inzwischen, wie das Unternehmen im hauseigenen Firmenblog schreibt.

Ein Mittel gegen solche Vorkommnisse könnten Reputationssysteme sein, wie sie von eBay und Amazon seit langem eingesetzt werden. Wer seine Waren stets ordentlich liefert oder prompt zahlt, gilt mit der Zeit als verlässlicher Nutzer.

Vielleicht muss man aber auch die Weisheit der Menge anders anzapfen, so wie in einem Experiment, dass die DARPA – die Forschungsagentur des Pentagons – 2009 machte. 40.000 Dollar bot sie demjenigen Team an, das als erstes die Positionen von zehn großen roten Wetterballons identifizierte. Die hatte die DARPA eigens für das Experiment an unbekannten Orten steigen lassen. Das Siegerteam vom MIT löste die Aufgabe in weniger als neun Stunden mit einem Anreizsystem, dass sich viral verbreitete: Wer einen Ballon entdeckte, sollte 2000 Dollar bekommen. Eine Person, die den Entdecker zur Suche eingeladen hatte, sollte mit 1000 Dollar belohnt werden.

Ein solch verteiltes Belohnungssystem brachte auch bei einem Experiment im vergangenen Jahr das beste Ergebnis. Die Aufgabe bestand darin, einzelne Personen innerhalb von zwölf Stunden in bestimmten Städten aufzuspüren. Einziger Anhaltspunkt war eine Art Fahndungsfoto der jeweils gesuchten Person.

Einer aus dem Siegerteam war der MIT-Student Iyad Rahwan, der nun am Masdar Institute of Technology mit anderen Verily entwickelt hat. Es knüpft ganz bewusst an die Erfahrungen der Experimente von 2009 und 2012 an: „Leute anzuwerben, ist ein Teil der Lösung“, sagt Rahwan. „Aber wir müssen auch herausfinden, wie man Falschmeldungen herausfiltert.“ Hatte die Ballonsuche noch neun Stunden gedauert, sei das Ziel nun, multimediale Behauptungen mittels Crowdsourcing in weniger als zehn Minuten zu bewerten.

„Dienste wie Reddit sind nicht so angelegt, dass sie eine derartige Zusammenarbeit fördern“, sagt Patrick Meier vom Qatar Computing Research Institute. Meier hat seine Erfahrungen als Direktor von Ushahidi eingebracht, einem Dienst, der Online-Karten von Krisengebieten erstellt.

Die Beta-Version von Verily soll denn auch zunächst bei einem extremen Wetterereignis, etwa einem Hurrikan oder einer Überschwemmungskatastrophe, getestet werden. So könnte beispielsweise das Foto eines überfluteten Krankenhauses, das auf Twitter kursiert, auf der Plattform veröffentlicht werden. Die Nutzer sollen dann nachprüfen, ob die gezeigte Information korrekt ist – etwa indem sie untersuchen, ob das Bild bearbeitet wurde. Dabei können sie auch ihre eigenen Freundesnetze einspannen. Hilfsorganisationen sollen im Vorfeld eingebunden werden und für die Teilnahme an Verily werben.

Wer sich in diesem und folgenden Tests als guter Detektiv bewährt, dessen Reputation steigt. Je höher sie ist, desto mehr Gewicht wird sein Urteil bei künftigen Überprüfungen haben. Und: Bringt er Freunde in die Suche ein, starten die gleich mit einem höheren Reputationswert.

Neben Verily gibt es bereits andere Dienste, die unzuverlässige Informationen angehen. Storyful etwa prüft in Videos, die für Medien bestimmt sind, ob Wetter, Sonnenstand oder im Bild befindliche Sehenswürdigkeiten auf der Aufnahme zusammenpassen. Mit der App Swift River kann man bereits jetzt Nachrichten aus sozialen Medien vorfiltern, indem man bestimmte Nutzer als unterschiedlich glaubwürdig einstuft. Die Fahndung nach den Bostoner Attentätern kam am Ende allerdings ohne Apps und Crowdsourcing aus: Die Zarnajew-Brüder wurden ganz klassisch durch Hinweise von Augenzeugen und Aufzeichnungen von Überwachungskameras identifiziert. (nbo)