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Was war. Was wird.

Ach, wie langsam ist doch das Internet! Und wie hoch der Stand, den man erklimmen muss, um über den Dingen zu stehen! Hal Faber aber fühlt sich im Langen Jetzt ganz wohl und wundert sich nur ganz langsam über bakterielle Vorläufer von Bill Gates.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Das Internet ist ein fürchterlich langsames Medium. Bei aller Schnelligkeit, der all die Blogs, Social-Networking- und Meta-Sites meinen hinterherhecheln zu müssen, braucht es realiter lange, bis sich herauskristallisiert, was wirklich relevant ist. Wenn etwa jeder Unsinn, den sich Rechtsanwälte so ausdenken, als Sensation unter die Leute gebracht wird, weiß am Ende niemand mehr, was die Stunde geschlagen hat. Und wer auf der anderen Seite nur noch auf andere referenziert, trocknet über kurz oder lang mangels Inhalt aus – darf sich aber wenigstens als Teil des vermeintlich schnellen Mediums Internet betrachten. Die Entdeckung der Langsamkeit jedoch wäre mal wieder ein recht tugendhaftes Unterfangen.

*** Und wo wir schon bei der Langsamkeit sind: Ein beliebter Vorwurf an Chronisten ist, dass sie am Alltäglichen kleben, nicht über den Dingen stehen und daher nicht das große Ganze sehen. Als MOP (Mensch ohne Peilung) in den Tiefen der niederdeutschen Tiefebene gründelnd, ist für mich nun einmal die Nachricht über Intershop die Sensation der Woche in der gefühlten zweimillionsten Meldung zu dieser Firma. Intershop und Gewinn, das ist wie die Behauptung, die Erde sei rund. Wie langsam jedoch muss man sein, wie mag der nötige klebefreie Abstand aussehen, wie hoch muss man eigentlich über den Dingen stehen, ehe das große Ganze auftaucht?

*** Aber was sind schon Langsamkeit und der Stand über den Dingen: Vielleicht ist nur der zeitliche Abstand wichtig. Da klebt man an einem urzeitigen Protokoll und vergisst schnell, dass die Uhren des Langen Jetzt ganz anders ticken. Blicken wir also zurück in die seeligen Zeiten, als die Ursuppe auf der Erde schwappte und das Leben aus einer Gemeinschaft der unterschiedlichsten Zellen bestand. Fand ein Wesen einen nützlichen chemischen Trick heraus, gab es den Trick mit seinen Genen an alle herumsuppenden Zellen weiter. Die Evolution schritt rasch voran, da überall und gleichzeitig viel Neues ausprobiert und getauscht wurde. Doch dann änderte sich die schwarmende Suppenintelligenz, schreibt Freeman Dyson:

"Eines unschönen Tages aber realisierte eine Zelle, die sich ungefähr auf dem Entwicklungsstand einer primitiven Bakterie befand, dass sie ihren Nachbarn in Sachen Effizienz einen Schritt voraus war. Diese Zelle, eine Art drei Milliarden Jahre alter Vorläufer von Bill Gates, trennte sich von der Gemeinschaft und weigerte sich, ihr Erbgut zu teilen. Ihre Nachkommen wurden die erste Bakterienspezies – und die erste Spezies überhaupt –, die ihr geistiges Eigentum ausschließlich für den Eigengebrauch reservierte."

Eine Art Vorläufer von Bill Gates tauchte also auf und schon war die Sache verkorkst. Drei Milliarden Jahren ist das her und schwerer zu korrigieren als ein Zellenfehler in Excel. Wenn überhaupt, dann geht es nur wie damals bei der PC-Revolution, die im schmerzlich vermissten Hombrew Computer Club begann. Nach Homebrew ist Genebrew das Zauberwort, mit Tausenden von PG, Persönlichen Gentechnik-Laboren, in denen jeder die wundersamsten Fische kreiert oder halt fischfressende Pinguine mit gelben Füßen und kleinen Schweinen, die fliegen können. Der Mensch beendet die Epoche des Darwinismus mit fröhlichen Experimenten, wie er die Epoche der Großrechner mit einem Gewimmel von PC-Clones beendete. Und bald wird es Zeit für einen neuen Brief an die Hobby-Forscher, die mit ihrem Treiben noch das schönste Geschäftsmodell ruinieren.

*** Aus praktischen Erwägungen sollten die schöpferischen Bricoleure ihre DNA-Köfferchen nicht beim Menschen absetzen. Der besteht zu 70 Prozent aus Wasser und ist ständig in Gefahr, auszutrocknen. Diese allgemeine Bedrohungslage ist, wie die Politik laufend mahnt, kein besonders guter Ausgangspunkt für die Biodiversität 2.0. Im Sinne eines echten Neubeginns wäre die Gentechnik besser beraten, bei den Schaben und Wanzen anzusetzen, sofern sie denn tatsächlich einen Atomschlag überleben. In diesem Sinne zeigt eine mit Napalm feuerbestattete Spinne die Abwege der Forschung. Statt nach neuen Nahrungsquellen für die Menschheit zu suchen, hätte man besser die Intelligenz des Krabbelviehs gefördert. Mit dem Computer können Spinnen jedenfalls gut umgehen.

*** Mit einem ordentlichen Abstand vom Geschehen werden kleine, unbedeutende Ereignisse immer kleiner. Aus der Ferne betrachtet künden 720 Weiter-Reiter davon, dass das Volk Anteil an der großen deutschen Autobahn-Debatte nimmt. Dennoch gab es schon bessere, richtig fundiert geführte Talkshow-Debatten, nach der die Mikrofone für die Gefangenen der Bewegung eingesammelt wurden. Die sich heute so ihre Gedanken machen über das, was vor 30 Jahren passierte, komplett mit den Beißreflexen empörter Andersseher.

*** Wenn weitere 30 Jahre vergangen sind, wird man über dieses Protokoll einer Überwachung, möglicherweise aber auch um die Angstzustände und Einbildungen während einer Überwachungsmaßnahmen staunen. So primitiv? Mit Funksperre und Mailboxrufumleitung wurde überwacht, als die Bundestrojaner noch nicht funktionierten bzw. noch nicht erlaubt waren, wird man sich 2037 wundern, und vielleicht verklärt der Zeit vor dem großen YouPornStopp gedenken, als das Internet nicht nur langsam war, sondern auch noch Pornographie enthielt – darunter Bilder, mit denen Verbrecher gefangen werden konnten.

*** Während vor Milliarden von Jahren die Ursuppe schwappte, musste der Mensch Ursuppenküchen schaffen, Labore vollgestopft mit allem erdenklichem Zeug, von gemahlenen Mückeneiern bis zur Elefantenwimper. Heute vor 128 Jahren begann ein Experiment, dass die Situation der gemächlich lebenden Menschheit grundlegend veränderte. Am 21. Oktober 1879 wurde in den wunderlich ausgestatteten Edison-Labors ein Experiment gestartet, bei dem eine Glühlampe 13,5 Stunden lang brannte und erst am 22. Oktober ihren Geist aufgab. Mit seinem Patent und dem Aufbau einer Stromzulieferindustrie startete Thomas Alva Edison das elektrische Zeitalter. Der Durchbruch der Technologie kam am 20. Oktober 1893, als die Stadt Chicago beschloss, eine elektrische Weltausstellung zu eröffnen. 27 Millionen Amerikaner oder die Hälfte der US-Einwohner besuchten das Weltwunder und sahen staunenswerte Neuheiten wie das elektrische Licht, den Reißverschluss und die Farbsprühdose. Was bleibt uns heute? Ein Strom-Manager, der die Frechheit besitzt, seine Dienstleistung mit einer Currywurst zu vergleichen. Eine passende Antwort darauf lautet: Mein Arsch gehört mir!

Was wird.

Der am Alltäglichen klebende Blick des Chronisten streift den Kalender und findet eine hübsche kleine Sicherheitskonferenz in London, auf der Microsoft und SAP ihre Software Security Initiative starten werden. Beim Versprechen, nie wieder unsichere Software abzuliefern, werden die Firmensprecher keine Miene verziehen dürfen. Wenigstens müssen sie nicht auf "Die Entstehung der Arten" schwören, diesem Buch, das erklärt, was der Vorläufer von Bill Gates alles angerichtet hat. Star der Londoner Konferenz ist Frank Abagnale, dessen Betrügereien in den sechziger Jahren für Aufsehen sorgten und als "Catch me if you can" in die Kinos kamen. Heute verdient Abagnale sein Geld als Sicherheitsberater, der beklagt, wie unehrlich doch diese Welt geworden ist. So schwindelt er sich nach wie vor durchs Leben.

Doch zurück zum Großen, zum Ganzen und Erhabenen: In genau 7,59 Milliarden Jahren ist es sowieso vorbei. Zwei Milliarden Jahre früher verlassen die letzten intelligenten Maschinen die Erde, nicht ohne ein gigantisches Pinguin-Denkmal ihren mutmaßlichen biologischen Vorfahren zu Ehren gesetzt zu haben – die Datenträger sind da nicht ganz eindeutig. Doch all das ist kein Grund zur Panik und Hektik, denn wie es schon der große Friedrich Engels in seiner komischen Logik anmerkte, beunruhigt von einem möglichen drastischen Ende des Sozialismus in ferner Zukunft, kann die einmal abgelaufene Weltuhr immer wieder aufgezogen werden, weil sie aufgezogen gewesen ist. Man darf nur bei der Umstellung von der Sommerzeit keine Fehler machen. Wie gut, dass 100 Millionen Uhren auf T-Systems hören und gleich danach das nächste WWWW freigeschaltet werden kann. Es lebe die wiedergefundene Zeit – und die zum Wiederfinden nötige Langsamkeit. (Hal Faber) / (jk)