Psychologen: Bedarf an Therapien für Computerspielsüchtige steigt

Nach Schätzungen des Psychologen Klaus Wölfling von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz ist bei rund drei bis neun Prozent der 16- bis 30-jährigen Internetnutzer der Umgang mit dem Computer außer Kontrolle geraten.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 414 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Andrea Löbbecke
  • dpa

"Wir haben unseren Sohn ans Internet verloren": Bereits seit März vergangenen Jahres ist der Kontakt zu Jakob (Name geändert) abgebrochen, erzählt Christoph Hirte aus Gräfelfing bei München. Die Sucht seines Sohnes nach "World of Warcraft" habe zunächst schleichend angefangen, er habe sich von seinem Studienort rund 600 Kilometer entfernt immer seltener zu Hause gemeldet. Inzwischen habe sich der 24-Jährige exmatrikulieren lassen und sitze den ganzen Tag vorm Computer. Der Student ist kein Einzelfall. Nach Schätzungen des Psychologen Klaus Wölfling von der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz ist bei rund drei bis neun Prozent der 16- bis 30-jährigen Internetnutzer der Umgang mit dem Computer außer Kontrolle geraten.

"Bundesweit steigt der Bedarf an Therapien für Computerspielsüchtige", sagt der Leiter der Ambulanz für Spielsucht, die in diesem März in Mainz eröffnet wurde. Neben der Sucht litten die meisten Patienten besonders unter den psychischen und sozialen Folgen, die stundenlanges Sitzen vorm Monitor mit sich bringt. Freunde und Familie würden vernachlässigt oder der Kontakt breche sogar ganz ab, sagt Wölfling. "Die Süchtigen gehen kaum an die frische Luft, treiben keinen Sport und legen keinen Wert auf gesunde Nahrung." Auch wenn es viele virtuelle Kontakte im Netz gebe, die Menschen lebten doch in sozialer Isolation, sagt der Psychologe. Da meist die Nächte durchgespielt würden, gerate der Schlaf-Wach-Rhythmus aus dem Gleichgewicht. "Das Spiel bekommt im Leben einen höheren Stellenwert, beispielsweise Sex oder Durst spielen keine Rolle mehr." Oft drohen existenzielle Probleme, etwa wenn Berufstätigen wegen schlechter Leistungen gekündigt wird.

In der Mainzer Ambulanz werden die Hilfesuchenden in einer ersten Sitzung rund drei bis vier Stunden zu ihrem Suchtverlauf befragt, zudem verschaffen sich die Psychologen einen Überblick über die Persönlichkeit des Patienten. Wichtiger Anhaltspunkt für eine Spielsucht sei das Gefühl, die Kontrolle über die am Computer verbrachte Zeit zu verlieren. "Es entgleitet mir" ist ein Satz, den wir oft hören", sagt Wölfling. Er werde oft gefragt, ab wie vielen Stunden vorm Computer die Sucht anfange – dies lasse sich jedoch nicht einfach beantworten und sei von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. "Man kann hier keine Regel aufstellen, wie lange jemand spielen darf."

Das Gros der Computerspielsüchtigen ist nach den Erfahrungen von Wölfling zwischen 18 und 27 Jahre alt, die allermeisten sind männlich. Ein Teil dieser Menschen habe schon früher Kontaktschwierigkeiten gehabt oder sei eher introvertiert. Bei der Behandlung der Sucht setzen die Psychologen auf eine ambulante Gruppentherapie. "Wenn Sie Menschen etwas wegnehmen wollen, müssen Sie etwas Neues anbieten", sagt der Experte. Dies ist dann erstmal eine "reale Gruppe von Patienten mit ähnlichen Problemen." Für einen möglichen Weg aus der Abhängigkeit dokumentieren die Süchtigen am Anfang neben ihrer Online-Zeit ihre Emotionen und Gedanken beim Spiel. "Es geht uns aber auch um die Hintergrundsymptomatik: Was kompensiere ich?" erklärt der Psychologe.

Eine Computer-Abstinenz wird von den Süchtigen nicht gefordert – das wäre zu lebensfern. "Wir wollen die Patienten zu einem funktionalen Umgang mit dem Internet bringen", sagt Wölfling. In der Ambulanz sind bislang rund 150 Anfragen eingegangen; derzeit befinden sich 18 Computerspielsüchtige in Therapie. Noch läuft die Behandlung als Modellprojekt, da diese Sucht nach den Worten von Wölfling noch nicht als Krankheitsbild von den Krankenkassen anerkannt ist.

Christoph Hirte hat die Geschichte seiner Familie inzwischen auf seiner Internetseite www.rollenspielsucht.de veröffentlicht – mit vielen Informationen zum Thema. Er möchte andere Eltern warnen, wachsam auf mögliche erste Symptome zu achten, wenn ihre Kinder ins Internet abgleiten und sie womöglich süchtig werden. Zu seinem Sohn Jakob hat Hirte nach wie vor keinen Kontakt. (Andrea Löbbecke, dpa) / (jk)