Flucht aus dem Netz

Strom lässt sich heute billiger selbst erzeugen als aus dem Netz beziehen. Immer mehr Menschen steigen aus dem System aus. Wer aber zahlt dann für die Trassen? Die Frage bietet Konfliktstoff. Dabei wäre sie schon heute zu beantworten.

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Von
  • Eva Augsten

Strom lässt sich heute billiger selbst erzeugen als aus dem Netz beziehen. Immer mehr Menschen steigen aus dem System aus. Wer aber zahlt dann für die Trassen? Die Frage bietet Konfliktstoff. Dabei wäre sie schon heute zu beantworten – würden die Beteiligten ausgetretene Denkpfade verlassen.

Der meterlange, eigens für die Zeremonie gebastelte Pappschalter kippelt zwar etwas, als ihn Umweltminister Peter Altmaier gemeinsam mit fünf anderen Gästen umlegt. Aber das grüne Lämpchen leuchtet auf wie geplant. Die Umstehenden applaudieren, Sektgläser klirren. Altmaier hat gerade im sächsischen Freiberg die Solarstromanlage des Sonnenhaus-Ingenieurs Timo Leukefeld vor Fernseh- und Fotokameras offiziell in Betrieb genommen.

Dass Leukefelds neues Haus so viel Aufsehen erregt, liegt daran, dass es sich das ganze Jahr hindurch selbst mit Energie versorgen soll. „Der Eigenverbrauch ist der neue Treiber des Photovoltaikausbaus in Deutschland“, sagt Altmaier. Ein Batterieblock neben dem Gebäude speichert Strom aus den Solarmodulen, ein riesiger Wassertank speichert die Wärme aus den Sonnenkollektoren für mehrere Wochen. Mit seinem Sonnenhaus erfüllt sich Leukefeld einen Traum. Er ist nicht nur Bauherr, sondern hat das Gebäudekonzept auch gemeinsam mit vier weiteren Ingenieuren entwickelt. Mehr als zwei Jahre lang haben sie an der Energiebilanz getüftelt, denn ans Sparen will Leukefeld auch im Winter nicht dauernd denken. Mit der jetzt eingebauten Technik ist er sicher, dass ihm der Strom auch dann nicht ausgeht, wenn dicke Schneewolken den Himmel verhängen, die Lichterkette brennt und der Braten im Ofen schmort.

Leukefelds neues Heim ist das erste schlüsselfertig erhältliche energieautarke Haus Deutschlands. Das Musterhaus dazu steht seit März 2011 in der Nähe von Hannover. Jeder kann es besichtigen und sich für knapp 400000 Euro bauen lassen. Doch da niemand darin wohnt, ist die Energieautarkie dort nur Theorie. Nun soll sie sich im Alltag bewähren.

Mit seinem Streben nach kompletter Unabhängigkeit gilt Leukefeld sogar in der Solarbranche als Visionär. Doch immer mehr Menschen teilen seine Idee. Sie produzieren einen Teil ihres Stroms selbst und freuen sich über jeden Cent, den sie den Energiekonzernen nicht in den Rachen werfen müssen. Diese wiederum sehen die Entwicklung mit großer Sorge: Die Einnahmen sinken, das alte Geschäftsmodell ist in Gefahr, ein neues nicht in Sicht.

Vier Faktoren haben den Trend ins Rollen gebracht: Erstens sind die Preise für Photovoltaikanlagen rasant gesunken, zweitens gibt es mittlerweile die ersten brauchbaren Batteriespeicher auf dem Markt, drittens steigen die Strompreise, viertens unterstützt die Regierung den Eigenverbrauch, beispielsweise durch Förderprogramme für privat betriebene Akkus. Denn Selbstversorger sind politisch durchaus erwünscht. Sie passen viel besser zur Idee eines freien Marktes als der staatlich festgesetzte Erlös für Ökostrom. Außerdem steht die Ökostromumlage offen auf jeder Stromrechnung und zieht so regelmäßig den Zorn der Wähler auf sich.

Mittlerweile hat der Trend allerdings ein Ausmaß erreicht, das die Politik in eine Zwickmühle bringt. Denn es fehlt ein stimmiges Konzept, wie man mit dem selbst produzierten Strom umgeht. So kommt es, dass Altmaier in Freiberg ein energieautarkes Haus eröffnet – und trotzdem einträchtig mit Energiekonzernen und Verbraucherschützern vor einer „Entsolidarisierung“ der Energiewende warnt: Die Selbermacher sollen daran schuld sein, dass die Strompreise für die anderen immer stärker steigen. Schließlich nutzen sie das Netz – zahlen aber nicht genug dafür.

Ideen dagegen, wie mit der Zwickmühle umzugehen ist, liefert das Bundesumweltministerium derzeit nicht. In seinen Thesenpapieren stehen vor allem Fragen: Entlastet der hausgemachte Strom tatsächlich die Netze? Oder treibt er für die übrigen Verbraucher die Netzkosten in die Höhe? Hilft er, die erneuerbaren Energien in den Markt zu integrieren, oder erschwert er dies eher? Sollte man ihn mit fördern oder lieber mit einer Abgabe belegen? Auf konkrete Aussagen will sich der Umweltminister in Zeiten des Wahlkampfes lieber nicht festlegen. (kd)