Das Phantom der Mathematik - zum 80. Geburtstag von Alexander Grothendieck

Am morgigen Freitag feiert der deutsch-französische Rechenmeister, Schriftsteller, Ökoaktivist und Mystiker Alexander Grothendieck an unbekanntem Ort seinen 80. Geburtstag.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 48 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Ralf Bülow

In einem Dorf in den französischen Pyrenäen lebt von der Welt zurückgezogen ein Mann, der wie kaum ein anderer die Entwicklung der Nachkriegsmathematik prägte. Ohne seine Vorarbeiten wären so publikumswirksame Durchbrüche wie der Beweis der Mordellschen Vermutung durch Gerd Faltings oder Andrew Wiles' Auflösung des Fermatschen Problems nicht gelungen.

Alexander – oder Alexandre – Grothendieck wurde vor 80 Jahren, am 28. März 1928, in Berlin geboren. Sein Vater war der ukrainische Anarchist Alexander Schapiro – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Anarcho-Syndikalisten –, seine Mutter die aus Hamburg stammende Literatin Johanna "Hanka" Grothendieck. Einige Jahre lang schlug sich die kleine Familie im Berliner Scheunenviertel durch, 1933 emigrierten die Eltern nach Frankreich und beteiligten sich später am Spanischen Bürgerkrieg. Der kleine Alexander kam zu einer Pflegefamilie nach Hamburg.

Dort wohnte der Junge bis 1939 und besuchte für kurze Zeit das Gymnasium in Blankenese. Wenige Monate vor Kriegsausbruch nahmen ihn die Eltern zu sich nach Frankreich, doch 1940 brach die Familie auseinander. Schapiro starb 1942 in Auschwitz, sein Sohn konnte aus einem französischen Lager nach Le Chambon-sur-Lignon fliehen, einer Gemeinde im Zentralmassiv, die Tausenden Juden Schutz bot. Hier ging Alexander Grothendieck auch zur Schule und machte 1945 sein Bakkalaureat, das französische Abitur.

Danach studierte er Mathematik in Montpellier, als Gasthörer in Paris bei Henri Cartan, wo er die berühmtesten Mathematiker des Landes traf, und schließlich in Nancy. 1953 promovierte er bei Laurent Schwartz über ein Thema aus der Topologie, dem Bereich der Mathematik, der sich den allgemeinsten Strukturen von Räumen widmet. Trotz exzellenter Dissertation blieb Grothendieck aber die akademische Laufbahn versperrt, da er staatenlos war und bewusst daran festhielt, um keinen Militärdienst leisten zu müssen.

Er lehrte zunächst in Brasilien und den USA und stürzte sich auf die algebraische Geometrie. Die Anfangsgründe des Feldes vermittelt die laufende "Imaginary"-Ausstellung, allerdings führte Grothendieck eine völlig neue und hochgradig abstrakte Sehweise ein, an die sich auch seine Kollegen erst gewöhnen mussten. 1959 erhielte er eine feste Stelle im frisch gegründeten Institut des Hautes Études Scientifiques, dem französischen Äquivalent zum Institute for Advanced Study in Princeton.

Hier arbeitete er bis zu zwölf Stunden täglich, auch am Wochenende, mit einer wachsenden Zahl von Mitstreitern an seinen Theorien. 1966 erhielt er die wohlverdiente Fields-Medaille, sein von den Eltern übernommener Anarchismus hinderte ihn aber daran, die Medaille auf dem Moskauer Mathematik-Kongress entgegenzunehmen. 1967 besuchte er Nordvietnam, 1968 erlebte er die Maiunruhen in Frankreich. 1970 nahm er aus politischen Gründen Abschied von seinem Institut.

Glaubt man seinem Biographen Winfried Scharlau, war Grothendieck zu diesem Zeitpunkt bereits ausgebrannt. In den nächsten Jahrzehnten wechselte er zwischen Mathematik, politischem Protest, Umweltschutz – er war einer der ersten europäischen Grünen – und Esoterik und füllte Tausende von Seiten mit biographischen, philosophischen und religiösen Meditationen. 1988 lehnte er den Crafoord-Preis der Schwedischen Akademie der Wissenschaften ab, 1991 gab er sein Haus in Südfrankreich auf und zog an einen unbekannten Ort, wahrscheinlich in den Pyrenäen.

Seine Forschungsresultate, da sind sich die Experten einig, zählen zu den großen Würfen der Mathematikgeschichte. Dem Gehirn des Laien entziehen sie sich durch ihren Abstraktionsgrad, und von Beispielen zur Erläuterung hielt Grothendieck nichts. In allergröbster Vereinfachung lässt sich vielleicht sagen, dass sein Ansatz dabei half, weit entfernte Zweige der Mathematik zu verbinden, strukturelle Gleichheiten zu erkennen und in einer neuen Systematik nutzbar zu machen. Probleme, die in ihrem alten Kontext unlösbar erschienen, verloren auf diese Weise ihre Geheimnisse.

Wie zu hören ist, geht es Grothendieck körperlich gut, doch ist er zweifellos psychisch krank. Primär- und Sekundärliteratur zu ihm ist inzwischen an verschiedenen Stellen im Internet nachlesbar, weiteres Material verfasste der Münsteraner Mathematiker Winfried Scharlau. Eine schöne biografische Übersicht liefert in zwei  Folgen die amerikanische Fachautorin Allyn Jackson, einen lesenwerten Überblick die Hamburger Autorin Agnes Handwerk.

Wem das noch nicht genügt, der kann sich am unvermeidlichen Youtube-Video oder aber – Vorsicht, Falle! – an Kinderzeichnungen erfreuen. (Ralf Bülow) / (jk)