Paletten mit Peilung

Die Logistik steht vor einem Modernisierungsschub. Lieferungen finden bald autonom den Weg zum Empfänger, lästiger Papierkram wird überflüssig.

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Von
  • Angela Froitzheim
  • Ulf J. Froitzheim

Die Logistik steht vor einem Modernisierungsschub. Lieferungen finden bald autonom den Weg zum Empfänger, lästiger Papierkram wird überflüssig, weniger Pakete gehen verloren.

Gelegenheit macht Diebe, etwa auf den Ladehöfen der Supermärkte. Dort stapelt sich Leergut – verlockend wie bares Geld, das offen herumliegt. Immer wieder verschwinden aber nicht bloß Cola- oder Bierkästen, die sich am nächsten Pfandautomaten risikolos versilbern lassen, sondern auch die Paletten, auf denen Getränke und andere Massenartikel an die Supermärkte geliefert werden. Die hölzernen Warenträger zirkulieren eigentlich, genau wie Mehrwegflaschen, als Pfandgut im Logistik-Kreislauf, bis sie verschlissen sind. Es hat sich aber ein florierender Schwarzmarkt entwickelt, auf dem professionelle Hehler unehrlichen Lkw-Fahrern drei bis vier Euro pro Palette zahlen. Der jährliche Schaden für die deutsche Wirtschaft gehe in die Millionen, warnte Alex Kotsiwos, Geschäftsführer der Willicher Sicherheitsberatung SSD Safe-Services, letzten November auf einem Logistikkongress in Stuttgart.

Wenn sich durchsetzt, was der Palettenvermieter Chep und das Dortmunder Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) noch bis Ende 2013 im Projekt "SmaRTI" (Smart Reusable Transport Items) praktisch erproben, machen kleinkriminelle Kraftfahrer bald keinen Schnitt mehr. Die bei SmaRTI eingesetzten blauen Paletten sind kein anonymes Massengut mehr. Sie sind "intelligente Warenträger", die andauernd Datenspuren hinterlassen – in der Fabrik, im Lastwagen, an der Warenannahme. Am mittleren Brett ist mit Spezialkleber ein robuster RFID-Funkchip (Radio-Frequency Identification Device) fixiert, der jedes einzelne Exemplar identifizierbar macht. Während Lieferant, Spediteur und Kunde damit jeden Schritt entlang der Lieferkette von der Laderampe des Lkws bis zum Abhollager der leeren Paletten mitverfolgen können, erkennt die Chep-Zentrale, bei welchem Warenempfänger wie viele Leerpaletten zur Rücknahme bereitliegen oder welcher Fahrer sie wann aufgeladen hat.

Dahinter steckt die Idee einer "autonomen" Logistik, wie Marketingexperten das System gern nennen: Der Leih-Warenträger telefoniert quasi nach Hause, wenn er angekommen ist, und sagt Bescheid, wenn er als Leergut abgeholt werden will. Das erleichtert eine wirtschaftlich optimale Tourenplanung und mindert den Schwund: Kommt die Ladung am Ziel nicht komplett an, schlägt das System Alarm. Die Funkpaletten gehören streng genommen zu den ersten Gegenständen, bei denen die Bezeichnung "Internet der Dinge" alias "IoT" (Internet of Things) unzweifelhaft passt. Das Fraunhofer IML unter der Leitung von Michael ten Hompel gilt als Deutschlands erste Adresse für IoT-Anwendungen.

Seine Meriten hat es jedoch mit Innovationen erworben, die treffender mit "Intranet der Dinge" beschrieben wären, da sie sich auf die sogenannte Intralogistik beschränken, also auf gut überschaubare Warenbewegungen innerhalb eines Unternehmens. Ein echtes Internet-Pendant für physische Transportgüter ist noch Neuland, auch für die Dortmunder. Ihr ehrgeiziges Ziel ist der "sich selbst steuernde Warenfluss": eine Kette selbstorganisierender papierloser Prozesse, die auf dem Weg von der Fabrik zum Verbraucher dem alltäglichen menschlichen Versagen oder Fehlverhalten vorbeugen, wo es nur geht.

Das Grundkonzept ist schnell erklärt: Physische Gegenstände sowie alle Umschlagplätze, die sie durchlaufen, erhalten jeweils ein virtuelles Alter Ego in Form einer unverwechselbaren IP-Adresse. Gespeichert wird diese Identität in einem billigen und robusten Datenträger, der drahtlos ausgelesen werden kann. Meist handelt es sich um gewöhnliche RFID-Funketiketten, je nach Anwendung kommen aber auch verwandte Techniken wie NFC (Near Field Communication, kurze Reichweite) oder ZigBee (größere Reichweite) zum Einsatz. Ein Ding zu versenden funktioniert nun genauso, wie eine E-Mail zu verschicken. Sobald der Absender die Adresse des Empfängers eingibt, trägt das reale Paket ein Datenpaket huckepack. Dessen unsichtbare Kopfzeile mit den nötigen Angaben zur Zustellung, im Fachjargon als Header bezeichnet, bestimmt, wo es langgeht. Den einzelnen Lkw oder den besten Weg vom Regal zum Kommissionierplatz wählt nicht der Mensch aus; diesen Job nehmen ihm Software-Agenten ab, die auf Effizienz geeicht sind: kurze Wege, wenig Leerfahrten, geringer Energieverbrauch.

Was mit heutiger Technik im innerbetrieblichen Einsatz schon alles umsetzbar ist, können Interessenten im "OpenID-Center" des IML selbst ausprobieren. In der 1500-Quadratmeter-Halle sind nicht nur RFID-Chips unterschiedlicher Hersteller installiert, sondern auch verschiedene Transportsysteme. Die Technik entfaltet ihr Potenzial allerdings erst dann, wenn alle an der Wertschöpfungskette beteiligten Handelspartner in eine standardisierte Infrastruktur investieren.

Wie solche firmenübergreifenden Logistikkreisläufe eines Tages aussehen könnten, zeigt das SmaRTI-Projekt. An dem Pilotvorhaben sind neben dem IML und dem Palettenpool Chep auch die Rewe-Gruppe mit ihrer Discount-Tochter Penny und der Hundefutterproduzent Mars beteiligt. Es ist eine der ersten großen Bewährungsproben für IoT-Komponenten im rauen Alltag an den Laderampen. Unter Praxisbedingungen wollen die Partner eine Prozessarchitektur herausarbeiten, die später als Referenzmodell für den kommerziellen Einsatz dienen soll. "Rewe hat in den Distributionszentren RFID-Sender installiert, die den gesamten Wareneingangsraum ausleuchten", erklärt IML-Experte Björn Anderseck. Am Warenausgang und in der Entsorgungszone, wo das Leergut aus den Filialen gestapelt werde, sei die gleiche Technik montiert. Sie diene neben der Erfassung der Warenbewegungen auch der Vermeidung kostenträchtiger Fehler: "Wir können die Ladung nicht nur identifizieren, sondern auch lokalisieren." Schiebe ein Lagerarbeiter am Warenausgang eine Palette auf die falsche Bahn, schlage das System Alarm.

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Prinzipiell wäre es mit solchen Systemen möglich, artikelgenau Lieferungen zu erfassen, bei denen auf jeder einzelnen Schachtel ein RFID-Tag klebt. Dieses Szenario, das in früheren Jahren in den Medien kursierte, ist aber derzeit im Einzelhandel nicht aktuell. Zum einen haben Versuche in experimentellen "Future Stores" gezeigt, dass datenschutzbewusste Verbraucher der Funktechnik, die auch den Kassiervorgang stark beschleunigen würde, noch nicht trauen. Zum anderen ist das Risiko, dass tatsächlich einmal unbemerkt eine falsche Menge ausgeliefert wird, zu gering, um Mehrkosten von einigen Cent pro Packung zu rechtfertigen. Bei SmaRTI repräsentiert der Chip der Palette deshalb zugleich die auf ihr angelieferte Ware: In dem Moment, in dem der Fahrer die Lieferung Hundefutter mit dem Hubwagen aus dem Lkw zieht, bucht das System die Ware dem Bestand von Penny zu und entlastet den Spediteur. Gleichzeitig erfährt der Verleiher Chep, dass ihm jetzt diese Niederlassung der Supermarktkette eine weitere Palette schuldet.

Auch die Lufthansa Cargo AG sieht darin Vorteile für sich. Je nach Ziel und Art des Frachtguts gehen mit einer einzigen Luftfrachtsendung bislang bis zu 30 verschiedene Belege mit an Bord. Die Mitglieder des Branchenverbands IATA müssen pro Jahr so viele Dokumententaschen befördern, dass sie allein damit die Laderäume von 80 Jumbojets vollstopfen könnten. Deshalb forcieren die Lufthanseaten das IATA-Konzept eCargo. Die Teilnehmer streben eine papierlose internationale Lieferkette an. Es geht um viel Geld: Experten erwarten bis 2020 jährliche Einsparungen in zweistelliger Millionenhöhe bei großen Airlines.

In ihrem Umschlagzentrum am Frankfurter Flughafen, der Cargo City Süd, hat die Lufthansa hierfür bereits erste RFID-Systeme installiert. Bis auch international überall Lesegeräte verfügbar und die Paletten der Kunden standardmäßig mit RFID-Chips ausgestattet seien, dürften jedoch noch Jahre vergehen, sagt Niko Hossain, Technology and Solutions Manager bei der Lufthansa-Frachtsparte und früherer IML-Forscher. Daher gehe die Lufthansa die Sache pragmatisch an: "Wir nutzen zusätzlich NFC." Diese Datenfunkvariante, die derzeit bei Handy-Zahlungssystemen auf dem Vormarsch ist, hat zwar nur eine Reichweite von wenigen Zentimetern. Deshalb müssen die Paletten einzeln von Hand gescannt werden. Dafür stehe eine speziell auf die Luftfracht zugeschnittene Version der Technik spätestens nächstes Jahr weltweit zur Verfügung.

Noch schneller könnten sich zwei Neuheiten made in Germany auf dem Markt durchsetzen – internettaugliche Kühlboxen von Bosch und der sensorgespickte Transportbehälter InBin vom IML. Die Ingenieure der Bosch Software Innovations GmbH aus Immenstaad am Bodensee haben sich der Thermoboxen angenommen, in denen Supermärkte heute ihre Tiefkühlkost erhalten. Diese aufwendig isolierten Mehrwegbehälter sind deutlich wertvoller als ihr Inhalt: rund 600 Euro. Stehen sie ungenutzt herum, sind sie totes Kapital – und latent diebstahlgefährdet.

Unter dem Projektnamen "Vista" hat Bosch SI für Rewe um diese Boxen herum einen RFID-gestützten Logistikprozess aufgebaut. Er steigert zugleich die Auslastung, senkt Transportkosten und verringert das Schwundrisiko. Der Prozess beginnt beim Bereitstellen der Ware im Tiefkühllager. In dem Moment, in dem der Mitarbeiter an der Packstation vom System seinen Auftrag entgegennimmt, verknüpft der Computer den Inhalt mit dem Behälter und baut ihn in einen Tourenplan ein. Er ist auf den kürzesten Weg hin optimiert, und ähnlich wie bei SmaRTI wird die Reise der Ware samt Leergut mitverfolgt. "Das System weiß, welche Boxen leer sind und abgeholt werden können", sagt Bosch-SI-Experte Alexander Rieger. Schon der nächste Fahrer, der den Markt anfährt, kann vom Computer die Order erhalten, sie mitzunehmen. Bald werde es dank eingebauter Sensoren, GPS- und Mobilfunkmodule möglich sein, nicht nur die Einhaltung der Kühlkette zu überwachen, sondern auch Abweichungen automatisch der Zentrale zu melden, so Rieger.

Die Dortmunder Fraunhofer-Forscher um Michael ten Hompel sind bereits auf dem besten Weg dorthin. Ihre auf der Hannover Messe 2012 vorgestellte Transportbox InBin (für "intelligent bin", schlauer Behälter) hat nicht nur Funk an Bord, sondern sogar eine kleine Recheneinheit und ein Display, die sich per Solarzelle mit Strom versorgen. Per Funk mit den entsprechenden Daten gefüttert, kennt die Box ihre Ladung und kann gewissermaßen auf sie aufpassen. Das Display der InBin erlaubt es je nach Bedarf, deren Inhalt zu zeigen oder einem Kommissionierer mitzuteilen, wie viele Exemplare einer Warensorte er entnehmen soll. Wenn die Temperatur im Lager den zulässigen Bereich überschreitet, kann die eingebaute Technik per Funk Hilfe rufen.

Das Elektronikmodul an der Stirnseite des Kunststoffgehäuses ist wetterfest verschweißt. Es besteht aus einer einfachen Recheneinheit mit 256 Kilobyte Speicher, einem 240 mal 400 Pixel großen Display, ein paar Bedienknöpfen und einer Funkschnittstelle nach dem stromsparenden ZigBee-Standard. Das Beste: Während seiner gesamten Lebensdauer, die auf zehn Jahre angelegt ist, muss man nie die Batterie wechseln: Standardausstattung ist ein kleines Photovoltaik- Panel, das schon bei schummriger Beleuchtung genug Strom liefert.

Sobald im Lager das Licht angeknipst wird, erwacht InBin zum Leben. Diese Technik testet das IML auch im Projekt "DyCoNet", an dem unter anderem die Lufthansa Cargo AG beteiligt ist. Künftige Luftfrachtcontainer mit autonomer Intelligenz werden zum Beispiel über Helligkeitssensoren im Innern registrieren, wenn sie geöffnet werden. Wie bei einer Plombe kann niemand etwas stehlen oder hineinschmuggeln, ohne eine Spur zu hinterlassen; dank der Sensoren lassen sich auch Zeitpunkt und Dauer der Manipulation speichern.

Die funkenden Boxen sind allerdings nur Mosaiksteine in einem großen Puzzle. Sie sind so konzipiert, dass sie bereits als Insellösung funktionieren. So kann Rewe unabhängig von Edeka seine Kühltransporte optimieren und ein Pharmagrossist mit den autonomen Plastikkisten des IML seine interne Logistik modernisieren. Sein wahres Potenzial als dieselsparender Effizienzturbo in der Logistik kann das Internet der Dinge aber erst dann entfalten, wenn Industrie und Handel an einem Strang ziehen und in Technik investieren, die scheinbar keinen Wettbewerbsvorteil bietet, weil sie für alle da ist. Beim Internet der Daten hat das auch eine Weile gedauert – aber es hat sich gelohnt.

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Die nächste industrielle Revolution bahnt sich an. Durch die Einführung künstlicher Intelligenz in die Welt der Produktion werden starre Automatisierungshierarchien schon bald der Vergangenheit angehören. Aus diesem Grund lädt Technology Review am 5. und 6. November 2013 zum Innovationskongress "Industrie 4.0" nach Berlin ein. Informieren Sie sich hier.

(bsc)