Industrie 4.0: Physische und digitale Welt kommen zusammen

Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften, erklärt im TR-Interview seine Vision einer komplett vernetzten Industrie.

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Von
  • Christian Buck

Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften, glaubt an eine komplett vernetzte Zukunft für die Industrie.

Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) und ehemaliger SAP-Chef, gehört zu den prominentesten Verfechtern der Industrie-4.0-Vision.

Technology Review: Herr Kagermann, was ist das Besondere an Industrie 4.0?

Henning Kagermann: Zum ersten Mal kommen physische und digitale Welt zusammen, weshalb wir auch von "Cyber-Physical Systems" sprechen.

An dieser Schnittstelle entstehen jetzt Innovationen. Natürlich haben wir bereits heute die "Digitale Fabrik", also virtuelle Abbilder realer Produktionsstätten, aber beide sind noch nicht in Echtzeit gekoppelt – Veränderungen im virtuellen Abbild führen nicht unmittelbar zu Veränderungen in der realen Welt und umgekehrt.

Eine weitere Neuerung durch Industrie 4.0 sind intelligente Produkte, die aktiv sind und wissen, wie sie bearbeitet werden sollen: Das Internet der Dinge kommt in die Fabrik. Man kann das mit dem Web 2.0 vergleichen, das aus passiven Nutzern aktive Teilnehmer gemacht hat. Industrie 4.0 ist also eine Art Web 2.0 für Produkte: Aus einer zentralen Produktionssteuerung wird ein dezentraler, sich selbst organisierender Prozess.

TR: Welche weiteren Vorteile hat die Selbststeuerung?

Kagermann: Sie ist schneller: Wir hoffen, dass wir die Durchlaufzeiten halbieren können. Sie ist auch erheblich flexibler und produktiver: In Zukunft wird die Fertigung von individualisierten Produkten zum Preis der Massenproduktion möglich sein – dann lassen sich zum Beispiel alle Varianten einer Produktfamilie auf derselben Linie fertigen. Und schließlich werden wir erheblich weniger Ressourcen verbrauchen: Die Maschinen können sich künftig je nach Fertigungsbedarf selbstständig umrüsten sowie Technologiedaten abgleichen und anpassen, das spart sehr viel Zeit. Außerdem sinkt die Fehlerrate, und es fällt weniger Ausschuss an.

TR: Welche Technologien sind für Industrie 4.0 entscheidend?

Kagermann: Sensorik und Aktorik in Kombination mit eingebetteter Intelligenz, damit die intelligenten Produkte ihre Umgebung wahrnehmen und mit ihr interagieren können. Auch die drahtlose Kommunikation hat hier eine große Bedeutung: Breitband-Mobilfunk für den Datenaustausch über große Distanzen oder RFID für die Kurzstrecke sind ganz entscheidend.

Ebenso wichtig ist die semantische Beschreibung von Diensten und Fähigkeiten der Komponenten, sodass die Software nicht allein Daten hin und her schickt – nur so interagieren Produktstücke und Maschinen auf intelligente Weise. Damit wird "Plug and Produce" möglich: Maschinen erkennen automatisch ihr Umfeld und vernetzen sich mit anderen Maschinen. So können auch Maschinen verschiedener Hersteller miteinander kommunizieren, weil sie nicht einfach Zeichen, sondern Bedeutungen – Informationen über ihre Aufträge, Auslastung und optimale Fertigungsparameter – austauschen.

Mehr Infos

Die nächste industrielle Revolution bahnt sich an. Durch die Einführung künstlicher Intelligenz in die Welt der Produktion werden starre Automatisierungshierarchien schon bald der Vergangenheit angehören. Aus diesem Grund lädt Technology Review am 5. und 6. November 2013 zum Innovationskongress "Industrie 4.0" nach Berlin ein. Informieren Sie sich hier.

TR: Wie kann man die Sicherheit der komplexen IT-Systeme garantieren?

Kagermann: Das ist eine ganz entscheidende Frage. Cyber-physikalische Produktionssysteme sind hochgradig vernetzte Systemstrukturen mit einer Vielzahl von beteiligten Mitarbeitern mit mobilen Endgeräten, IT-Systemen, Automatisierungskomponenten und Maschinen. Zwischen ihnen findet ein reger Daten- und Informationsaustausch statt, der gegen Manipulation, Sabotage und Spionage abgesichert werden muss. Darum arbeiten wir intensiv an Sicherheitsfragen. Aber auch die Sicherheitstechnologien müssen bezahlbar und effizient sein. Die grundlegenden Mechanismen sind schon vorhanden – wir müssen sie noch verfeinern und günstiger machen.

TR: Warum ist Industrie 4.0 für Deutschland wichtig?

Kagermann: Das Rückgrat unseres wirtschaftlichen Erfolges ist die produzierende Industrie, und als Vorreiter bei Industrie 4.0 können wir die Produktion in einem Hochlohnland wie Deutschland halten. Ein weiteres Argument ist der demografische Wandel, der vor allem uns und Japan treffen wird. Industrie 4.0 wird ältere Arbeitnehmer durch mobile, kontextabhängige und adaptive Assistenzsysteme unterstützen und durch neuartige Serviceroboter physisch und kognitiv entlasten. Und drittens zählt bei uns Ressourceneffizienz durch Industrie 4.0 ganz besonders, weil wir ein rohstoffarmes Land sind. (bsc)