Deutschland droht ein Kraftwerks-Engpass

Während Kanzlerin Angela Merkel noch einen Koalitionspartner sucht, verschärft sich das Kraftwerksproblem bei der Energiewende. Die Zahl der Stilllegungsanträge steigt, die derzeitige "Notverordnung" kann nicht die Lösung sein.

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Von
  • Georg Ismar
  • dpa

Monat für Monat trudeln bei der Bundesnetzagentur neue Stilllegungsanträge ein. Inzwischen sollen 26 Kraftwerksblöcke (Kohle und Gas) mit einer Leistung von 6735 Megawatt in Deutschland eingemottet werden, weil sich ihr Betrieb nicht mehr lohnt. Anfang September waren es erst 19 Kraftwerke. Die nun zur Disposition stehende Leistung entspricht immerhin fünf großen Atomkraftwerken.

Händeringend wartet die Branche auf politische Signale, wie immer mehr Ökostrom und die weiter notwendigen Kraftwerke sich so ergänzen können, dass die Versorgung sicher bleibt und sich die Geschäfte zugleich noch lohnen. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dürfte neben den Kosten der Energiewende die Kraftwerksfrage nach einer Koalitionsbildung eine der ersten großen Reformbaustellen werden.

Drei Beispiele: Im Juni eröffnet der norwegische Statkraft-Konzern in Hürth ein 350 Millionen Euro teures Gaskraftwerk, fährt es aber nicht an. Im Juli teilt der größte Stadtwerkeverbund Trianel mit, dass das 750-Megawatt-Steinkohlekraftwerk im westfälischen Lünen im ersten Betriebsjahr 100 Millionen Euro Miese erwirtschaften werde. Und der Versorger Enervie aus Hagen meldet Ende September seinen gesamten Kraftwerkspark mit 1300 Megawatt zur Stilllegung an.

Und nun prüft sogar der Energiekonzern RWE einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge das vorzeitige Ende des umstrittenen nordrhein-westfälischen Braunkohletagebaus Garzweiler. Das Bergwerk könnte bereits bis zum Jahr 2018 geschlossen werden, hieß es. Zwar rentieren sich unter den fossilen Anlagen Braunkohlekraftwerke derzeit noch am meisten, doch auch hier wachsen die Unsicherheiten.

Union und FDP reagierten auf die Misere mit dem "Wintergesetz". Damit kann die Abschaltung "systemrelevanter" Kraftwerke von der Bundesnetzagentur untersagt werden. Daraus wurde im Juni eine Reservekraftwerksverordnung, die bis Ende 2017 befristet wurde.

Das Gesetz kann die Strompreise treiben, wenn Anlagen stillgelegt werden sollen, dies aber gerade in Süddeutschland wegen des Wegfalls von drei Atommeilern untersagt wird. Bleiben die Anlagen in stand by, müssen Erhaltungsausgaben, etwa für Korrosionsschutz, Brennstoffkosten sowie Personalkosten entschädigt werden. Sie werden auf die Netzentgelte umgelegt, die Teil des Strompreises sind.

Eine Dauerlösung dürfte das nicht sein – denn sonst müssen die Bürger nicht nur Milliardensummen für die Förderung von Wind- und Solarenergie zahlen, sondern auch für unrentable Stand-By-Kraftwerke. Das Abwarten der Politik riskiere "gestrandete" Investitionen in Milliardenhöhe, hatte Statkraft Markets-Geschäftsführer Jürgen Tzschoppe schon im Juni betont.

Gerade hoch flexible Gaskraftwerke werden gebraucht, um auf die stark schwankende Ökostromproduktion zu reagieren. Sie stoßen zudem weit weniger CO2 aus als Kohlekraftwerke. Patrick Graichen von der Denkfabrik Agora Energiewende erwartet ohne Gegensteuern bis zum endgültigen Atomausstieg 2022 eine Deckungslücke an sicherer, immer abrufbarer Leistung von 5000 bis 15 000 Megawatt in Deutschland.

Derzeit gibt es im Stromverkauf oft Ernüchterndes. Am sonnigen Tag der Einheit war es mal wieder soweit: Viel Sonnenstrom am Mittag (20 000 Megawatt) und recht viel Windstrom (rund 11 000 Megawatt) bei wenig Verbrauch ließen die Strompreise im kurzfristigen Verkauf an der Börse EPEXSpot purzeln. Es kam zu negativen Strompreisen. Zwischen 13 und 15 Uhr mussten 50 Euro je Megawattstunde an Abnehmer des Stroms draufgezahlt werden. Denn zusätzlich produzierten Atom-, Gas- und Kohlekraftwerke mittags noch mit einer Kapazität von 26 000 Megawatt - gerade Atom- und Kohlekraftwerke sind nicht flexibel genug, um auf die schwankende Ökostromproduktion zu reagieren.

So paradox es klingen mag: An vielen Tagen gibt es derzeit sogar zu viel Strom - aber vor allem im Winter sind mehr konventionelle Kraftwerke vonnöten. Das Problem ist ihre übers Jahr gesehen zu geringe Auslastung, weil Ökostrom einen Einspeisevorrang hat.

Am Dienstag hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen ein Reformpapier vorgelegt, das gerade RWE mit seinen vielen Kohlekraftwerken nicht schmecken dürfte. Das Beratergremium von Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) fordert, den Preis für CO2-Verschmutzungsrechte im EU-Emissionshandel deutlich zu erhöhen – das würde Gaskraftwerke wieder rentabler machen. «Ein erhöhter CO2-Preis steigert die Produktionskosten fossiler Kraftwerke und führt so auch zu einem höheren Börsenpreis, von dem hocheffiziente und flexible Kraftwerke besonders profitieren», betonen die Berater.

Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) fordert als wettbewerbliche Lösung einen dezentralen Leistungsmarkt. Statt nur über den reinen Stromverkauf Geld zu verdienen, sollen Kraftwerksbetreiber auch für "Versorgungssicherheitsnachweise" bezahlt werden. Können sie in Knappheitssituationen die von ihnen garantierte Leistung nicht liefern, sollen ihnen Geldbußen drohen. (axk)