Die Walmartisierung des Gesundheitswesens

Der einzelne Hausarzt, das kleine Krankenhaus haben lange die Medizin geprägt, doch mit fortschreitender Vernetzung wird sie dieselbe Entwicklung nehmen wie der Einzelhandel. Die Patienten können davon nur profitieren, meint der Gesundheitsökonom David Cutler.

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  • David Cutler

Der einzelne Hausarzt, das kleine Krankenhaus haben lange die Medizin geprägt, doch mit fortschreitender Vernetzung wird sie dieselbe Entwicklung nehmen wie der Einzelhandel. Die Patienten können davon nur profitieren, meint der Gesundheitsökonom David Cutler.

Die Vorstellung, dass die Technik die Medizin verändert, ist so alt wie der Computer. 1945 beschrieb der Visionär Vannevar Bush in seinem epochalen Text „As we may think“ ein „Memex“ genanntes Programm, mit dem man auf Bücher und Aufzeichnungen aus der Vergangenheit zurückgreifen könnte. Ein Arzt könnte so in lange zurückliegenden Krankengeschichten nach einer bestimmten Diagnose suchen, stellte sich Bush vor.

Die Medizin ist in der Tat eine informationsintensive Industrie geworden. Ein medizinisches Memex gibt es aber bis heute nicht. Obwohl das Internet überquillt vor Informationen zu Gesundheitsfragen, zeigen Studien immer wieder, dass Behandlungen in der Praxis deutlich von einschlägigen Empfehlungen abweichen – sofern es überhaupt welche gibt. Ärzte verlassen sich lieber auf ihre eigene Erfahrung als auf die von Millionen Patienten, die von Tausenden von Doktoren behandelt worden sind. Wie oft hat nicht ein Medikament einen allergischen Schock ausgelöst, nur weil die entsprechende Information über die Nebenwirkung zum fraglichen Zeitpunkt gerade nicht zur Hand war.

Doch Schritt für Schritt ändert sich die Lage. Das Konjunkturpaket der US-Regierung von 2009 – als Reaktion auf die Finanzkrise erlassen – rief unter anderem das „HiTech Program“ ins Leben: Es stellt Ärzten und Krankenhäusern Milliarden Dollar zur Verfügung, um Systeme für elektronische Patientenakten anzuschaffen. Seit 2009 hat sich die Zahl solcher Systeme in Krankenhäusern verdreifacht, in Arztpraxen sogar vervierfacht. In einigen Jahren dürfte wohl das gesamte Gesundheitsystem vernetzt sein.

Anteil von US-Ärzten, die elektronische Patientenakten nutzen.

Was passiert dann? Mit der Verbreitung der Informationstechnik im ärztlichen Alltag wird die medizinische Versorgung dem Einzelhandel oder der Finanzwirtschaft immer ähnlicher werden. Sie wird von großen Einrichtungen abgewickelt, standardisierter sein als heute, mit geringeren Gesamtkosten – aber sie wird auch unpersönlicher sein.

Der Gesundheitssektor von heute gleicht dem Einzelhandel in den frühen 1980ern, als Haushaltsprodukte und Kleidung von vielen lokalen Geschäften und kleinen Ladenketten vertrieben wurden. Die Preise waren höher, die Qualität war mitunter Glückssache und das Kauferlebnis der Kunden durchwachsen. Die konnten sich nur auf Produktinformationen stützen, die ein Geschäft selbst oder die Sonntagszeitung gab.

Mit der Verbreitung der Informationstechnik wurden die Einzelhandelsfirmen größer. Walmart ersetzte den Laden an der Ecke, Amazon verdrängte den lokalen Buchhändler. Denn große Unternehmen können mehr aus Informationstechnik herausholen als kleine, wenn sie ihr Inventar verwalten, die Bestände konsistenter machen, Routineabläufe automatisieren und Preise heruntersetzen. Der Output pro Mitarbeiter im Einzelhandel ist seit 1995 jährlich um vier Prozent gestiegen – der von Personal im Gesundheitswesen hat im gleichen Zeitraum hingegen abgenommen.

Wenn das Medizin-Memex am Ende kommt, werden Sie sehen, dass der Gesundheitssektor dem Einzelhandel folgen wird. Der Arzt, der alleine eine eigene Praxis betreibt, wird als erstes verschwinden. Er wird sich entscheiden müssen: entweder auch die Arbeit eines IT-Managers mit zu übernehmen oder sich mit Kollegen in größeren Praxen zusammenzuschließen. Den meisten wird die Entscheidung leichtfallen: Während von den Ärzten über 65 Jahren noch 40 Prozent alleine praktizieren, sind es bei den jüngsten Ärzten nur noch fünf Prozent.

Anteil von US-Ärzten verschiedener Altersstufen, die alleine oder mit einem Kollegen praktizieren.

Auf kleine Krankenhäuser wartet dasselbe Schicksal. Bei Anschaffungskosten für medizinische Datensysteme von 20 Millionen Dollar begeben sich bereits jetzt einige unter die Obhut der großen Konkurrenten. Ich vermute, dass in den Großstädten innerhalb der nächsten zehn Jahre die Zahl der einzelnen Hospitäler von zehn bis 15 auf drei bis fünf – große Einrichtungen – fallen wird. Die bieten dann alles an: Gesundheitschecks, Seniorenbetreuung und Herzbehandlungen ebenso wie das Verschreiben von Allergiepillen.

Wer uns behandelt, und wo, wird sich ebenfalls ändern. Mit einer elektronischen Anbindung muss niemand mehr für jede Kleinigkeit den Doktor aufsuchen. Zunehmend wird das, was Hausärzte tun, von Gesundheitspersonal etwa in einem Walmart oder in einer Filiale der Apothekenkette CVS erledigt werden. Dauerrezepte für bestimmte Medikamente können online erneuert werden, unter Aufsicht eines elektronischen Arztes. Sogar anspruchsvolle Dienste können damit weiträumiger abgewickelt werden, koordiniert von spezialisierten Einrichtungen, die weit weg vom Wohnort sein können.

Am stärksten wird sich wohl die Rolle des Patienten wandeln – des Akteurs im Gesundheitssystem, der bislang am wenigsten einbezogen wird. Patienten gelten heutzutage fast als eine Art Ärgernis – „Ich hab ihm doch gesagt, er soll seine Pillen nehmen...“ ist eine Wendung, die so manchem Mediziner über die Lippen kommt. Stellen Sie sich stattdessen vor, der Patient würde aktiv zum Medizin-Memex beitragen: Jede Person mit zu hohem Blutdruck könnte beispielsweise eine eigene Blutdruck-Manschette bekommen, und die tägliche Messung wird dann direkt an die elektronische Patientenakte beim Arzt übertragen, wo ein Computerprogramm die Werte auf Ausreißer überprüft. Unterstützt von einer Software zur Entscheidungshilfe könnte ein Patient mit Krebs im Frühstadium selbst wählen, ob er eine Operation, eine Bestrahlung oder aufmerksames Abwarten bevorzugt. Solche Entscheidungen werden heute im Wesentlichen von Ärzten gefällt, und nicht selten wenig objektiv.

Die Informationstechnik wird die Spielregeln ändern, denn sie verändert den Blick der Menschen auf sich selbst, ihre Krankheit und ihre Pfleger. Die Kundenloyalität gegenüber Amazon etwa ist nicht zuletzt deshalb so hoch, weil das Unternehmen Suchvorgänge und Kaufentscheidungen von uns und anderen Kunden mit ähnlichen Vorlieben auswertet und uns so Dinge anbietet, die uns gefallen. Der Kunde ist Teil des Memex von Amazon. Die Gesundheitsversorgung wird weniger frustrierend sein, wenn sich die Macht von den Anbietern zu den Nachfragern verlagert, wenn also die Patienten am Drücker sind.

Kritische Stimmen warnen davor, dass ein Gesundheitswesen mit wenigen großen Akteuren, das ähnlich wie der Einzelhandel funktioniert, die Kosten nach oben treibt. Andererseits lassen sich Veränderungen in seiner Organisation leichter bewältigen, wenn mehr Ärzte in ein und demselben System zusammenarbeiten. Das Institute of Medicine schätzt, das unzureichende Pflege, mangelnde Prävention, Bürokratie und zu hohe Preise für ein Drittel der Gesundheitskosten verantwortlich sind. Allein das Abrechnungswesen schlägt mit einem Viertel der Gesamtkosten zu Buche. Walmart und Amazon hingegen geben nur ein Zehntel für die Abwicklung von Rechnungen aus. Die Kosten hierfür sind im gesamten Einzelhandel gesunken.

Es gibt ein berühmtes Gemälde von Norman Rockwell, „Doctor and the Doll“, in dem ein Arzt ein kleines Mädchen tröstet, indem er am Herz von dessen Puppe lauscht. Der Arzt zu Rockwells Zeiten wusste noch alles über das Mädchen und seine Familie. Anders der Arzt der Zukunft: Er wird nicht sein inneres Memex aus Erfahrungen befragen, sondern den Patienten zu spezialisierten Gesundheitseinrichtungen dirigieren. Denen, die es nötig haben, wird er auch weiterhin zur Seite stehen, wird den Todkranken Trost spenden. Das ist vielleicht nicht so aufregend wie das Wirken der Chirurgen und Doktoren in Fernsehserien – eine echte Berufung bleibt es dennoch.

David Cutler ist Gesundheitsökonom an der Harvard University und Autor des demnächst erscheinenden Buches „The Quality Cure: How Focusing on Health Care Quality Can Save Your Life and Lower Spending Too“.

(nbo)