Selbst ist der Patient

Vor dem Arztbesuch konsultieren immer mehr Deutsche Dr. Google. Medizinische Apps überwachen Blutdruck, Gewicht, Schlafverhalten und Zuckerwerte. Neue Medien steigern den Therapieerfolg – aber leider nicht für alle.

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Von
  • Kristin Raabe

Vor dem Arztbesuch konsultieren immer mehr Deutsche Dr. Google. Medizinische Apps überwachen Blutdruck, Gewicht, Schlafverhalten und Zuckerwerte. Neue Medien steigern den Therapieerfolg – aber leider nicht für alle.

Ein Samstagvormittag Ende 2009: Andreas Schreiber will noch ein wenig am Computer arbeiten, bevor er ins Wochenende startet. Aber plötzlich treffen seine Finger die Tasten nicht mehr. Als der promovierte Mathematiker seiner Frau sein Problem schildern will, bekommt er kein verständliches Wort aus dem Mund. Im Krankenhaus ist die Diagnose schnell gestellt: Schlaganfall. Und nicht der erste: Eine Magnetresonanztomografie deckt in seinem Gehirn Spuren von mehreren kleineren Infarkten auf. Dabei ist Schreiber mit seinen 39 Jahren dafür eigentlich noch viel zu jung. In der Kölner Uniklinik beginnt eine wochenlange Suche nach den Ursachen. Mehrmals werden Fehldiagnosen gestellt, Akten und Untersuchungsergebnisse gehen verloren. „Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt“, erzählt Schreiber.

Das soll ihm nie wieder passieren. Er, der unwissende Laie, der abhängig ist von mehr oder weniger guten Experten und einfach nur alles mit sich machen lässt – das passt so gar nicht in sein Selbstkonzept. Sobald er einen Teil seiner Kontrolle zurückgewonnen hat, wird er selbst aktiv. In der Reha entwickelt er eine App, die ihm hilft, wieder Sprechen zu lernen. „Die Logopäden waren überrascht, dass so was überhaupt geht.“ Bei Andreas Schreiber verstärkt sich zunehmend der Eindruck, dass Mediziner und Therapeuten die Möglichkeiten von neuen Medien nicht ausreichend nutzen. Er selbst kennt sich aus, schließlich leitet er eine Abteilung für Softwareentwicklung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln und hat dort schon oft Programme zur medizinischen Überwachung von Astronauten erarbeitet. Jetzt aber geht es um ihn. Schreiber wird zum Experten für seinen eigenen Körper. Er überwacht seinen Blutdruck, seinen Puls, seinen Blutzucker, seinen Schlaf, sein Gewicht und jeden Schritt, den er macht.

„In welche Richtung entwickle ich mich? Der Trend interessiert mich, nicht der akuelle Messwert.“ Heute ist Andreas Schreiber ein prominentes Mitglied der deutschen Quantified Self Community. Die Bewegung der „Selbstvermesser“ wurde 2008 in den USA von den „Wired“-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly ins Leben gerufen und ist dort inzwischen schon fast zu einem Massenphänomen geworden. Zum Treffen der Kölner Quantified Self Community Ende August kamen nur etwa 20 Interessierte. Noch sind es nicht viele, aber sie verkörpern die Spitze einer Entwicklung, die den Medizinbetrieb und vor allem das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten grundlegend verändern wird. Nie zuvor waren gesundheitsrelevante Informationen für Patienten so leicht zugänglich. Im Internet finden sich etliche Websites, die medizinische Inhalte auch für Laien verständlich darstellen. Apps mit medizinischen Nachschlagewerken lassen sich bequem aufs Smartphone downloaden, und selbst einen DNA- oder HIV-Test kann jeder einfach online bestellen. Patienten erlangen so immer mehr Autonomie und rütteln damit am alten Status des Arztes als Halbgott in Weiß.

„Hier vollzieht sich gerade ein historischer Wandel“, glaubt der Psychologe Rainer Bromme. An der Universität Münster untersucht er die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Bereits 2009 befragten Bromme und seine Mitarbeiter 51 Hausärzte der westfälischen Stadt nach ihren Erfahrungen mit Patienten, die sich vor dem Arztbesuch über das Internet informiert hatten. Die Mehrheit gab an, manchmal bis häufig solchen Menschen im Behandlungszimmer gegenüberzusitzen. Einige unter ihnen äußerten allerdings den Verdacht, von vielen Internetrecherchen ihrer Patienten gar nicht zu erfahren.

„Ich habe schlechte Erfahrungen damit gemacht, mein Wissen zu erkennen zu geben, und halte mich da inzwischen eher zurück“, sagt auch Andreas Schreiber. Viele Ärzte sehen äußerst ungern ihren Expertenstatus infrage gestellt. Die Ergebnisse des Psychologen Bromme kommen allerdings zu einem anderen Schluss: 80 Prozent der befragten Ärzte gaben an, dass durch die Internetnutzung die Kommunikation zwischen Arzt und Erkranktem gefördert würde. Auch die Mitarbeit der Patienten bei Therapien ließe sich so verbessern. „Das gelingt aber nur, wenn auch der Arzt sich auf das Internet einstellt“, meint Bromme. Und da scheint es zu haken: Viele Mediziner in Brommes Studie gaben zu, nicht zu wissen, wie sie ihre Patienten bei den Internetrecherchen unterstützen können. Außerdem beklagen einige von ihnen, dass manche Patienten mit den Informationen aus dem Web überfordert seien und sie deshalb falsch interpretierten.

Die Fokus-Artikeln im Einzelnen:

Seite 62 - Medizin im Netz: Ersetzen die neuen Medien bald die Arztsprechstunde?
Seite 68 - Interview: Ein Medizindidaktiker zu Nutzen und Schaden von medizinischer Online-Recherche
Seite 70 - Gadgets: Smartphones als Ultraschallgeräte, Blutdruckmesser und Krebstester
Seite 74 - Telemedizin: Visite per Videoschalte, Überwachung per App
Seite 78 - Selbstversuch: Online-Sprechstunde bei Dr. Ed
(jlu)