Mensch im Mittelpunkt

Industrie 4.0 ist eine Chance auf interessante und abwechslungsreiche Arbeitsplätze. Doch weil auch Verantwortung und Komplexität zunehmen, bedarf es größerer Anstrengungen bei der Weiterbildung. Eine Schlüsselrolle spielt die Führungskultur.

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Von
  • Bernd Müller

Industrie 4.0 ist eine Chance auf interessante und abwechslungsreiche Arbeitsplätze. Doch weil auch Verantwortung und Komplexität zunehmen, bedarf es größerer Anstrengungen bei der Weiterbildung. Eine Schlüsselrolle spielt die Führungskultur.

Vor 40 Jahren war es der Heilsbringer, heute ist es ein rotes Tuch: Computer Integrated Manufacturing, kurz CIM. Seine Befürworter propagierten damals Automatisierungslösungen für die computergesteuerte – und menschenleere – Fabrik. CIM hat viele Impulse für die Industrieautomatisierung gegeben, die Menschen hat es aber nicht abgeschafft. Weil manche CIM und Industrie 4.0 in einen Topf werfen, gibt es gelegentlich Vorbehalte gegen den neuen Trend. Dabei will Industrie 4.0 ausdrücklich nicht die Menschen aus den Fabriken verdrängen – im Gegenteil. „Der Mensch hat in der Fabrik der Zukunft eine zentrale Rolle“, sagt Stefan Ferber, Leiter Business Development im Internet der Dienste & Dinge von Bosch Software Innovations in Waiblingen. Die Automatisierung werde ergänzt durch Assistenzsysteme, die den Werkern mehr Flexibilität und Entscheidungsmöglichkeiten bei weniger Stress gewährten.

Falsches Verständnis: „CIM war stark technologisch und von Großkonzernen geprägt“, kritisiert auch Klaus Burmeister, Geschäftsführer von Z_punkt, einem Beratungsunternehmen für Zukunftsfragen. Das habe sich zum Teil geändert. Doch auch bei der Entwicklung von cyber-physischen Systemen für Industrie 4.0 sei die Dominanz technologischer Fragestellungen noch spürbar. Zudem orientierten sich Fragen nach der Qualifikation von Fachkräften und Arbeitsabläufen vor allem an den Bedürfnissen der Wissensarbeiter, etwa von Ingenieuren und Führungspersonal. Das falle zum Beispiel bei der Lektüre der Leitstudie zur Produktionsarbeit des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation auf.

Burmeister sieht aber auch positive Entwicklungen. Vor allem Mittelständler würden neuerdings über die Rolle der Produktionsarbeiter und neue Formen der Arbeitsorganisation nachdenken. Getrieben werde diese Entwicklung unter anderem durch den Fachkräftemangel, durch Einsparziele beim Energieverbrauch und durch die Individualisierung von Produkten, die statt der einstigen Massenfertigung eine hochflexible Produktion erfordere. Ohne entsprechend qualifizierte Werker sei das nicht zu leisten.

Das hat auch die Industriegewerkschaft Metall erkannt. „Technik und Arbeitsgestaltung müssen zusammen gedacht werden“, fordert Constanze Kurz. Die Arbeitssoziologin im Vorstand der IG-Metall sieht gute Chancen, dass Produktionsarbeiter von Industrie 4.0 profitieren, weil die zentrale und hierarchische Steuerung in den Fabriken entfällt und die Arbeit damit interessanter und verantwortungsvoller wird.

Die Fabrikplaner erkennen: Produktionsarbeiter sind nicht mehr nur ein Rädchen im Getriebe, sondern beteiligen sich an der Gestaltung der Arbeitsprozesse. „Menschen müssen die Systeme steuern, nicht umgekehrt“, so Kurz. Nach ihrer Wahrnehmung würden die Gewerkschaften von Wissenschaft und Wirtschaft zunehmend als vollwertige Partner gesehen, weil diese erkannt hätten, dass Industrie 4.0 ohne das Wissen der Werker nicht abheben werde. Ob Industrie 4.0 Arbeitsplätze schaffe oder koste, lasse sich noch nicht sagen, so Kurz. „Menschenleere Fabriken wird es aber nicht geben.“

Allerdings geht der Bericht der Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft davon aus, dass die Schere zwischen qualifizierten und ungelernten Arbeitern weiter auseinandergeht. Den Arbeitnehmern werde mit Industrie 4.0 ein hohes Maß an selbstgesteuertem Handeln, kommunikativen Kompetenzen und Fähigkeiten zur Selbstorganisation abverlangt. Gleichzeitig werde die Zahl von Arbeitsplätzen mit einfachen manuellen Tätigkeiten weiter abnehmen. Damit dies nicht zu einer sozialen Schieflage in der Gesellschaft führt, empfehlen die Autoren die Weiterbildung auch ungelernter Arbeiter direkt am Arbeitsplatz. Und sie fordern, dass die intelligente Fabrik Qualifikationsdefizite ausgleicht, etwa im Umgang mit Computern.

In den Werkshallen wird es einen massiven Wandel der Arbeit geben. Und was ist mit den Führungsebenen? „Der kulturelle Wandel dort ist mindestens so wichtig wie der technologische Wandel in der Produktion“, sagt Regina Köhler, Geschäftsführerin von Contas, einem Beratungsunternehmen für strategischen Kulturwandel. Sie ist Mitglied im Arbeitskreis Industrie 4.0 des IT-Branchenverbandes Bitkom, wo sie sich mit dem Wandel der Arbeitswelt beschäftigt. Erst seit einem Jahr stehe dies zunehmend auf der Agenda, davor hätten technologische Fragen dominiert. Oft wollen sich Unternehmen wandeln, weil Druck herrscht, wenn Umsätze einbrechen und die Stimmung in der Belegschaft am Boden ist. Bei Industrie 4.0 sieht die Psychologin dagegen die Chance, den Wandel in Ruhe zu gestalten, denn so schnell werde dieses Thema nicht in den Betrieben Einzug halten.

Der entscheidende Faktor, ob sich Industrie 4.0 durchsetzen kann, ist für Köhler die Führungskultur. Weil die Probleme in der Produktion komplexer werden und Ad-hoc-Teams mehr Verantwortung übernehmen und diese Anforderungen selbst bewältigen müssen, braucht es eine neue Entscheidungs- und Vernetzungskultur an der Basis. Sie aber kann nur von oben kommen, Führungskräfte müssen sie also vorleben und vorantreiben und auf die Fähigkeiten der Mitarbeiter vertrauen.

Das ist keine neue Erkenntnis. Eine kooperative Unternehmenskultur sollte eigentlich heutzutage selbstverständlich sein. Ist sie in vielen Betrieben aber nicht. Und bisher war das auch nicht nötig. Aber mit Industrie 4.0 werde diese Anforderung dringender, so Köhler. „Mit einer Top-Down-Organisation funktioniert das nicht mehr.“ Erst kürzlich hat Köhler ein Unternehmen beraten, das massive Schwierigkeiten hatte, weil Kunden immer mehr Varianten mit immer kleineren Stückzahlen eines Produkts verlangten. Das warf die Produktion aus dem Takt, Qualitätsprobleme häuften sich. Erst durch eine Verjüngung der Führungsriege und eine neue Führungskultur konnte das Unternehmen das Ruder herumreißen. Regina Köhler: „Die Mitarbeiter haben erkannt, dass nicht die Führungskraft sondern sie selbst die Experten vor Ort sind, die ihre Probleme selbst lösen können.“

(jlu)