Sandtaucher

Der neue Zukunftsroman von „Silo“-Autor Hugh Howey ist auf Englisch erschienen. In „Sand“ ist die Welt von einer Wüste bedeckt. Das Überleben der Menschen hängt davon ab, darin nach Verwertbarem zu tauchen.

vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Der neue Zukunftsroman von „Silo“-Autor Hugh Howey ist auf Englisch erschienen. In „Sand“ ist die Welt von einer Wüste bedeckt. Das Überleben der Menschen hängt davon ab, darin nach Verwertbarem zu tauchen.

Sand ist normalerweise kein Medium, in dem man leicht vorankommt. Auf die Idee, darin tauchen zu können, ist bisher vermutlich nur einer gekommen: Science-Fiction-Autor Hugh Howey, bekannt dafür, dass er seine Bücher im Selbstverlag über Amazons „Direct Publishing“-Plattform veröffentlicht. Die Protagonisten seiner neuen Serie „Sand“ tauchen nicht zum Spaß im Sand, sondern aus schierer Notwendigkeit. Sie leben in einer Wüste, die weite Teile des ehemaligen US-Bundesstaates Colorado bedeckt. Die einstigen Städte liegen mehrere hundert Meter tief unter dem Sand begraben.

Mit Druckluftflaschen und speziellen Tauchanzügen – die den Sand durch ein elektrisches Feld zum Vibrieren bringen und damit quasi flüssig machen – reparieren die Sandtaucher zugewehte Wasserpumpen und holen wiederverwertbare Objekte aus der alten Welt herauf. Maschinen, Kabel und Kleidung lassen sich verkaufen. Beim Tauchen orientieren sie sich mit einem Visor, der ihnen neben der Tiefenangabe wie eine Wärmebildkamera verschiedene Farbtöne zeigt: Weit entfernte Objekte sind violett bis blau, nahe leuchten gelb bis orange.

Ich mag an Howeys Büchern, dass er sich Zeit nimmt, mehrdimensionale Figuren zu entwickeln. Dabei schafft er manchmal mit nur wenigen verbalen Pinselstrichen Szenen, die einem unter die Haut gehen. „Sand“ erzählt von einer Mutter und ihren vier Kindern, die der Vater verlassen und damit in Armut gestürzt hat. Die Abgestumpftheit der Mutter beim Lackieren ihrer Fußnägel, der ihr Mann nichts außer einem schlecht laufenden Bordell hinterließ, gehört zu den bedrückendsten Szenen im ganzen Buch.

Ihr ältester Sohn Palmer gehört zu den besten Sandtauchern und heuert für einen vermeintlich leichten, lukrativen Job bei einer Gruppe von Banditen an. Dann aber stellt sich heraus, dass er den Standort der noch ungeplünderten Metropole Danvar bestätigen soll, die viel tiefer als alle anderen Städte liegt. Palmer ahnt nicht, dass es nicht um Schätze geht, sondern etwas extrem Gefährliches und die Banditen nur Handlanger in einem viel größeren Plan sind. Der Auftrag geht schief und der junge Taucher steckt in 500 Metern Tiefe in einem Wolkenkratzer fest.

Allein schon diese Idee hat einfach Applaus verdient. Aber Howey hat ein Händchen für ausgefallene Ideen. In seinem Erfolgsroman „Silo“ müssen die Menschen in riesigen unterirdischen Bunkern leben und können nicht an die Oberfläche zurück. In „Halfway home“ beginnt ein mit künstlicher Intelligenz ausgestattetes Raumschiff, Planeten-Kolonisten vorzeitig aus dem Kälteschlaf zu wecken – nur um mittendrin plötzlich damit anzufangen, sie umzubringen. Und in der Molly-Fyde-Weltraumserie gibt es eine bösartige humanoide Spezies, die dafür sorgen kann, dass sie nach jedem neuen Big Bang erneut entsteht und einen technischen Entwicklungsvorsprung hat.

Auch die Welt von „Sand“ hat Howey sorgsam und beklemmend realistisch entworfen. Während es in Silo eine (meistens) funktionierende Gesellschaft mit Gesetzen gab, führt uns der Autor diesmal in eine gesetzlose, korrupte Welt. Die Menschen sind ausgeliefert, verzweifelt und abgestumpft. Sie sind den
Launen korrupter Lords ausgeliefert und leben – in ständiger Angst vor Rebellenanschlägen auf belebten Plätzen – von der Hand in den Mund. Zwischen den verstreuten Ortschaften im Süden lauern Banditen, im Norden angeblich sogar Kannibalen. Im Westen stehen schroffe Berge. Und dann ist da das ominöse, dumpfe Trommelgeräusch im Osten.

Von dort weht unaufhörlich neuer Sand herüber und begräbt die Häuser unter sich. Es gibt kein Entkommen vor den winzigen Körnchen, die ihren Weg durch jede Ritze finden, sich in Haaren und Zähnen festsetzen und in der Masse alles und jeden unter sich begraben. In einer denkwürdigen Szene in Teilband 5 werden sie sogar zum Tsunami. Geregnet hat es seit Menschengedenken nicht mehr. Wie schon in „Silo“ weiß niemand mehr, welche Katastrophe dazu geführt hat, denn sie liegt viele hundert Jahre zurück. Das ist vermutlich Stoff für einen späteren Band.

Die Geschichte lebt auch von Howeys zahlreichen Wortneuschöpfungen. Mein Favorit ist „sissyfoot“: So heißen die Menschen, die den unaufhörlich herein wehenden Sand von den Wasserpumpen schaufeln und zu neuen Dünen aufschütten müssen – und dafür nur Eimer zur Verfügung haben. Howey findet „Sand“ nach eigenem Bekunden besser als „Silo“. Dem kann ich nicht zustimmen. Die Geschichte einer über Jahrhunderte eingesperrten Gemeinschaft mit ihren Revolutionen und die ungeheuerliche Auflösung im zweiten Band „Shift“ (auf Deutsch noch nicht erschienen), wie es zu alldem kam, hat ungleich mehr Wucht.

Trotzdem ist „Sand“, von ein paar Längen abgesehen, eine richtig gute Geschichte, die im nächsten Band nach bewährtem Muster noch ein paar Schippen mehr drauf legen dürfte. Andeutungen für ein paar Ungeheuerlichkeiten gibt es jedenfalls genug. Vor einer Woche erschien der fünfte und letzte Kindle-Teilband von „Sand“, am 9. Januar die Gesamtausgabe „Omnibus“. Das englische Taschenbuch ist ebenfalls schon erhältlich. (vsz)