Die Welt nach Facebook

Wie sich die Zukunft verändern könnte, wenn das größte Soziale Netzwerk des Planeten verschwindet. Und was das alles mit der NASA, MS-DOS und Zigaretten zu tun hat. Ein Kommentar von Peter Glaser zu Facebooks 10-Jährigem.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Peter Glaser
Inhaltsverzeichnis

Eine Welt ohne Facebook?

Unvorstellbar, 10 Jahre nach dem ersten Auftreten.

So unvorstellbar wie in den Achtzigerjahren eine Welt ohne den Rechnergiganten IBM.

1980 war Microsoft eine kleine Firma mit 40 Mitarbeitern, und nachdem Bill Gates mit IBM ein Vertrag über die Entwicklung eines Betriebssystems für den geplanten IBM-PC unterzeichnet hatte, sah seine Sekretärin Miriam Lubow ihren jungen Boss eines Morgens in einem dreiteiligen Anzug ins Büro kommen. Gewöhnlich war Gates ziemlich lässig gekleidet, seine Brillengläser waren verschmiert und manchmal hatte er Pizzareste am T-Shirt. Dann trafen drei Männer in Jeans und Sneakers mit dicken Aktentaschen ein und sagten, sie kämen von IBM. Die Ingenieure versuchten sich an Gates Stil anzupassen – und Gates sich an ihren. Als sie sich in seinem Büro begegneten, fingen alle an zu lachen.

Veränderungen gehen in der digitalen Welt oft unerwartet und schnell vor sich. Den Leuten von IBM sollte bald das Lachen vergehen. Was sich angesichts der schieren Größe des Unternehmens kein Mensch hatte vorstellen können, geschah: IBM verlor eine alles überragende Marktführerschaft an seine Mitbewerber, Bill Gates stieg auf zum reichsten Mann der Welt.

Eine Welt ohne Facebook?

So unvorstellbar wie 2007 eine Welt ohne Second Life. Längst verweht.

So unvorstellbar wie noch vor kurzem eine Welt ohne den Software-Weltherrscher Microsoft.

Ein Kommentar von Peter Glaser

Bild: Karola Riegler

(Bild: Karola Riegler)

Peter Glaser begleitet seit 35 Jahren als Essayist und Autor die Entwicklung der digitalen Welt. Er ist Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs und Ingeborg-Bachmann-Preisträger, schreibt u.a. Kolumnen für Technology Review und Mac & i und betreibt für die Neue Zürcher Zeitung das Blog "Glaserei".

Am 13. April 2013 stufte die Investmentbank Goldman Sachs die Microsoft-Aktie erstmals von "neutral" auf "verkaufen" herab, da das PC-Zeitalter zu Ende zu gehen scheint und es Microsoft an Zugkraft bei Tablet-Computern und Smartphones mangle. Der designierte neue Microsoft-Chef Satya Nadella ließ unlängst die Nachrichtenagentur Bloomberg wissen, wie wichtig es sei, die Nähe von aufstrebenden Jungunternehmen zu suchen – in der Technologiebranche sei es nun einmal so, "dass die Kleinen groß rauskommen und die Großen sterben".

Die Ex-Giganten sind, mehr oder minder, alle noch da. Aber sie sind nicht mehr, was sie einmal waren – unausweichliche Mächte, die unsere Zukunft in der Hand halten. Das heißt: Eine Welt ohne Facebook erscheint vielen heute vielleicht unvorstellbar. Denkbar ist sie durchaus.

Ein mögliches Szenario wäre, dass Facebook verschwindet – und bleibt. Genauer gesagt, dass das Unternehmen zu der Einsicht kommt, nicht das zu sein, was es heute zu sein glaubt, also ein "soziales Netzwerk", sondern etwas ganz anderes.

Jeder spürt, dass an dieser Selbstbestimmung etwas nicht stimmt. Facebook ist eher ein Erwachsenenkindergarten unter algorithmischer Aufsicht oder eine globale Nutzerabwimmelanlage als eine soziale Organisationsstruktur. Wer schon einmal versucht hat, einen Facebook-Mitarbeiter auch nur per E-Mail zu erreichen – etwa um zu verhindern, dass einem die digitale Identität abgedreht wird  –, der weiß, was gemeint ist.

Man kann einen solchen dramatischen Erkenntniswandel vergleichen mit der Firma IBM und ihrem Chef Thomas J. Watson, dem in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts klar wurde, dass sein Unternehmen nicht einfach Büromaschinen vermietete, sondern Informationsverarbeitung betrieb. Erst diese neue Wahrnehmung machte den Weg frei für das, was danach als "Big Blue" die Welt eroberte – der erste Blaue Riese des Computerzeitalters, seit nunmehr genau einem Jahrzehnt gefolgt von dem zweitblauen Moloch Facebook (Mark Zuckerberg leidet an einer Rot-Grün-Sehschwäche und kann Blau besonders gut sehen).

Die These, dass Facebook eigentlich noch gar nicht weiß, was es ist, und deshalb (so wie wir es heute kennen) verschwinden wird, lässt sich durch einen Vergleich mit der Raumfahrtindustrie illustrieren. Denn auch die Nasa beginnt erst jetzt nach einem halben Jahrhundert langsam zu begreifen, dass sie sich mit einem Raumfahrtunternehmen verwechselt hat – in Wahrheit aber ein soziales Netzwerk ist. Eigentliches Ziel der immensen Anstrengungen, die nicht zuletzt zur ersten Mondlandung führten, waren weder technischer noch wissenschaftlicher Fortschritt, sondern die Produktion eines grenzüberschreitenden, planetaren und nach wie vor anhaltenden Gemeinschaftsgefühls: Hello World! Wir sind auf dem Mond gelandet!

Das Internet – und für immer mehr Menschen ist Facebook ein Synonym für das Netz – ist gewissermaßen die Lehre aus der Challenger-Katastrophe und dem wirtschaftlichen Niedergang der US-Raumfahrt. Mit dem Internet lassen sich die Ausflüge in die Weltenräume nun nach innen verlegen, ins Innere der menschlichen Gemeinschaft. Das Internet ist das neue Space Shuttle, in dem es nicht mehr nur sieben Plätze gibt: Jetzt darf jeder mitfliegen.

Ähnlich wie der Nasa nach der ersten Mondlandung Euphorie und Leidenschaft abhanden gekommen sind (Erinnert sich irgendjemand an die zweite Mondlandung?), könnte es auch Facebook ergehen. Auch die Nasa gibt es immer noch, aber auch sie ist nicht mehr, was sie einmal war.

Und Facebook wird schon jetzt von den wenigsten seiner Abermillionen Nutzer gemocht. Es wird von den meisten eher hingenommen wie eine Charakterschwäche. Facebook ist die Zigarette des 21. Jahrhunderts.

Realistischer erscheint ein Szenario, das davon ausgeht, dass Facebook in absehbarer Zeit wirtschaftlich korrodiert. Schon jetzt ist das Unternehmen sehr darauf fixiert, seine Werbeeinnahmen zu erhöhen. Der Druck, die Aktionäre zufriedenzustellen, wird mit dazu beitragen, dass in absehbarer Zeit keine umwälzenden Innovationen mehr zu erwarten sind.

Dabei täte das gut.

Nach einer Studie von iStrategyLabs kamen dem Like-Universum in den letzten drei Jahren mehr als 25 Prozent der Nutzer zwischen 13 und 17 Jahren abhanden (zugleich stieg der Anteil an über 55-jährigen um 80 Prozent).

Noch ist Facebook dabei, dem Konsens-Medium des 20. Jahrhunderts, dem Fernsehen, das Wasser abzugraben und selbst zur magischen Mitte des Mainstreams zu werden. Facebook liefert den Rahmen für all die Fragmente, Links, Videos und Textschnipsel, die sich nun aus ihren althergebrachten Medien herauslösen – Tracks aus Musik-Alben, Artikel aus Zeitungen, Katzenfotos aus der Weltfotomasse – und die im Wind des digitalen Wandels herumfliegen.

Sie alle landen im Stream, der sich immer überfüllter anfühlt, obwohl der geheime Edge-Rank-Algorithmus für uns vorsortiert oder uns bevormundet wie man will. Auf Facebook jedenfalls werden wir verarbeitet.

Und es gibt Dienste, noch sind es Nischen, die bereits damit begonnen haben, Facebook Marktanteile wegzunagen wie Termiten. Die Versuche von Zuckerberg und seiner Führungsriege, derlei Eindringlinge einzukassieren, verlaufen nicht immer so erfolgreich wie mit Instagram. Dienste wie WhatsApp oder Snapchat beginnen die monolithische Facebook-Nutzerstruktur zu zersetzen und unterlaufen das werbebasierte Geschäftsmodell.

"Gut: NSA, GCHQ, Apple, Facebook, Microsoft, Google werden alle sterben", schreibt ein Nutzer – natürlich – auf Facebook, und: "Schlecht: Wir haben nicht den blassesten Schimmer, was danach kommt."

Witterung aufnehmen kann man aber durchaus. Noch sieht es so aus, als habe Facebook das, worum AOL sich in den Neunzigerjahren erfolglos bemüht hat, nun doch noch zuwege gebracht: das offene, abenteuerliche Netz in ein geschlossenes System zu verwandeln, das uns mit seinen Bequemlichkeiten verführt und an die glasüberwölbten Kuppelstädte erinnert, die man sich in den Fünfzigerjahren als den Lebensraum der Zukunft vorgestellt hat – here we are.

Es kann aber auch gut sein, dass die Integrationskraft von Facebook nicht ausreicht, eine Milliarde leicht bis mittelschwer genervte Nutzer – die einer permanenten Datenleibesvisitation unterzogen werden und die sogar, wenn jemand gestorben ist, nur sagen dürfen: "Gefällt mir" – als auch verunsicherte Werbekunden bei der Stange zu halten. Denkbar also ist auch eine Welt, in der digitale Termiten so lange kleine, innovative Interesse-Körnchen aus dem Inneren von Facebook forttragen, bis der Laden irgendwann zu Staub zerfällt und verweht. Nicht an einem Tag, aber nach und nach, immer die Timeline entlang.

Happy Birthday, Facebook (18 Bilder)

Das ist der Mark.

Mark Zuckerberg hatte 2004 die Idee für Facebook. Heute freut er sich: Er ist Multi-Milliardär. (Bild: dpa)


Siehe dazu auch:

(jk)